Aby Moritz Warburg (1866–1929) entwickelte einmalige Systeme zur Buch- und Bilderordnung.

Silke Briel / HKW, The Warburg Institute

Aby Warburg.

Silke Briel / HKW, The Warburg Institute

Die Arbeit des legendären Kunsthistorikers und Bildforschers Aby Warburg (1866–1929) gründete auf einem eigenwilligen Deal: Als Sohn einer Hamburger Bankiersfamilie konnte er auf ein beträchtliches Erbe hoffen. Er ließ sich allerdings mit einer Klausel auszahlen, nicht in einer Summe, sondern mit einem lebenslang offenen Bücherscheck. Und in dieser Hinsicht waren seine Bedürfnisse beträchtlich. Als 1933, vier Jahre nach seinem Tod, die von ihm gegründete Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (KBW) vor den Nazis gerettet und nach London gebracht wurde, waren die Bestände so enorm, dass bis heute an deren Erschließung gearbeitet wird. Darunter befand sich auch das Lebensprojekt von Aby Warburg: ein Bilderatlas mit dem Namen der Mnemosyne, der griechischen Muse der Erinnerung.

Motivgeschichten erzählen

Lange Zeit rechnete man diesen Versuch, in Form von 63 großformatigen Tafeln mit knapp tausend einzelnen Motiven eine Geschichte des erweiterten Abendlands in Bildern zu erstellen, zu den großen Ruinen der Moderne. Es bedurfte des Forschergeists zweier Liebhaber, des Hamburger Situationismusexperten und Kunsthistorikers Roberto Ohrt und des Künstlers Axel Heil, dass der Bilderatlas nun doch noch als fertiggestellt betrachtet werden kann. Seit Anfang September ist im Berliner Haus der Kulturen der Welt die Ausstellung Aby Warburg. Bilderatlas Mnemosyne. Das Original zu sehen. Der Begriff Original ist dabei insofern originell, als Warburg eben nicht so sehr an den originalen Kunstwerken interessiert war, sondern sich mit Abbildungen begnügte, denn ihm ging es eben vor allem darum, im größeren Zusammenhang Motivgeschichten zu erzählen.

In der Ausstellung ist es nun eine zweifache Bilderreihe: In einem großen, abgedunkelten Raum ergeben die 63 erhaltenen und 20 von Warburg noch entworfenen Tafeln einen elegant geschwungenen Umlauf, der es erlaubt, jederzeit leicht auch zwischen den Tafeln hin und her zu gehen. Was auf den Tafeln selbst zu sehen ist, ist dann eine Reihe nur in einem formalen Sinn, denn hier dominiert eben das Prinzip Assoziation. Zu Recht wird immer wieder darauf hingewiesen, dass einer Generation, die längst auch an Bildersuchmaschinen gewöhnt ist, Warburgs Bilderatlas vom Prinzip her sofort einleuchten müsste.

Nicht nur Buch- und Bildersammler

Im Detail sind Warburgs Verknüpfungen und historische Verbindungslinien zwischen der Antike und der frühen Neuzeit allerdings deutlich komplexer als Klickordnungen. Das kann man in einer kleinen, aber hochkarätigen Ausstellung in der Gemäldegalerie sehen, die als Ergänzung zu den Tafeln im HKW fungiert: Zwischen Kosmos und Pathos – Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne. Hier zeigt sich, dass Warburg nicht nur Bücher sammelte, sondern alles, was ihm für seine Bildforschungen relevant schien.

Zum Beispiel brachte er von einer Reise nach Skandinavien eine Holzschachtel mit, auf der ein Hosenkampf zu sehen ist – ein geläufiges Motiv, in dem Frauen sich um einen Heiratskandidaten streiten. In Berlin fand Warburg dazu eine Entsprechung, einen Kupferstich, in dem das Thema unverhohlen sexuell dargestellt wird – der Kampf ist eine Gruppenkopulation in Form eines Tanzes.

Mit der Lupe Sherlock Holmes spielen

Warburgs Forschung war durchaus mehr als nur gelehrtenerotisch aufgeladen. Er konnte in Bildnissen einer Nymphe den heiligen Geist des Begehrens durch die Epochen wehen sehen, und in Bilder des trojanischen Priesters Laokoon, dem Schlangen die Luft abschnüren, konnte er seine lebenslangen Probleme mit Depressionen hineinlesen. Der Bilderatlas Mnemosyne ist ein Projekt, das tief im 19. Jahrhundert steckt und dabei Konstellationen des 21. Jahrhunderts vorwegnahm. Für alle, die bis Ende November nicht nach Berlin kommen, gibt es guten Ersatz: Der Hatje-Cantz-Verlag hat den Bilderatlas in einem großformatigen Buch in bemerkenswerter Detaildruckqualität vorgelegt. Da kann man dann mit der Lupe selbst einen kunsthistorischen Sherlock Holmes spielen. (Bert Rebhandl, 30.9.2020)