Ein Haus der Inuit-Siedlung Tiniteqilaaq in Ostgrönland: Im hohen Norden sind die Konsequenzen der Erderwärmung besonders spürbar.

Foto: Imago / Imagebroker

Die "nördlichste Stadt der Welt" dürfte auch zu den kleinsten Städten zählen: Das grönländische Qaanaaq, auch Thule genannt, hat nur etwa 650 Einwohner. Vier winterliche Monate ohne Tageslicht sind sicherlich mit ein Grund, weshalb nur wenige Menschen von außerhalb an diesen Ort ziehen. Hier leben vor allem Inughuit oder Polar-Inuit, eine lokale Gemeinschaft, die ihre Nahrung und Produkte des täglichen Bedarfs großteils ohne industrielle Technologien gewinnen.

Dabei sind die Inughuit von der Jagd auf Wale, Robben, Moschusochsen und andere Wildtiere abhängig. Sie dürfen daher eine begrenzte Anzahl geschützter Tiere pro Jahr erlegen. Wie Menschen in dieser Region in und mit der eisigen Landschaft leben, das untersuchte die dänische Anthropologin Kirsten Hastrup. Die emeritierte Professorin der Universität Kopenhagen hält am Montag den Eröffnungsvortrag bei den Vienna Anthropology Days, die dieser Tage stattfinden.

Fangquoten

Hastrups Forschungsteam stattete einige Inughuit-Jäger mit GPS-Geräten aus, damit sie ihre Jagdrouten dokumentieren können, und bat sie um Fotos ihrer Fänge. Die Ergebnisse wurden in der Hauptstadt Grönlands, Nuuk, präsentiert – und fanden großen Anklang bei den Behörden, die die maximalen Jagdquoten festlegen.

"Die Jäger hatten erstmals eine handfeste Grundlage für Verhandlungen und konnten beweisen, dass ihr Vorgehen sehr nachhaltig ist", sagt Hastrup im Gespräch mit dem STANDARD. "Sie hatten erstmals den Eindruck, gehört zu werden und Partner im Dialog über diese Quoten zu sein."

Nördlich des Polarkreises zeigen sich besonders deutlich die Konsequenzen des Klimawandels, die die indigene Bevölkerung bedrohen: Die Jagdsaison wird immer kürzer, und natürlich gehen die Eisflächen zurück. "Je weiter man gen Norden kommt, desto schneller schmilzt das Eis", sagt Hastrup.

"Die Jäger sind beunruhigt, aber gleichzeitig bereit, sich an Neues anzupassen – vorausgesetzt, sie haben die Möglichkeiten dazu. Aber die Situation versetzt sie in eine sehr instabile Lage." In diesem Sommer lag die Größe des arktischen Eises auf dem zweitniedrigsten Wert seit Beginn der Messungen, bis 2050 soll die Eisdecke zeitweise verschwinden.

Globale Trends verstehen

Schon bevor der Klimawandel deutlich im Bewusstsein der Bevölkerung angekommen ist, sind Landschaften und die Natur-Kultur-Interaktion in den Forschungsfokus der Sozialanthropologie gerückt. "Deshalb müssen wir enger mit den Naturwissenschaften zusammenarbeiten", sagt Hastrup, die für ihr jüngstes Projekt in Grönland auch Archäologen und Biologen mit ins Boot holte.

Die ehemalige Präsidentin der dänischen Akademie der Wissenschaften beobachtet eine Veränderung ihrer Disziplin: "Wir haben heute global viel mehr gemeinsames Wissen als früher. Und es gibt einen permanenten Zustrom von neuen Ideen, Begriffen und Ansichten, der sich auf das Selbstverständnis der Menschen auswirkt. Als Anthropologen müssen wir uns stärker der weltweiten Trends bewusst werden, ob sie nun politischer, pandemischer oder ökologischer Natur sind", sagt Hastrup.

Welche Trends die Arktis in Sachen Transportmittel und -wege prägen und verändern, das untersucht Peter Schweitzer von der Universität Wien. In diesem Jahr erhielt er dafür die Zusage einer Förderung des Europäischen Forschungsrates ERC in Höhe von 2,5 Millionen Euro.

Das Großprojekt soll alle drei Teile der Arktis rund um das Nordpolarmeer abdecken: den hohen Norden Russlands, Amerikas und Europas. Hier gibt es große Unterschiede: "Der russische Teil nimmt mehr als die Hälfte der Arktis ein. In Westsibirien wurden zur Öl- und Gasgewinnung bereits ab den 1960er-Jahren viele Gebiete rücksichtslos industrialisiert", sagt Schweitzer.

Im kanadischen Teil sucht man hingegen vergeblich nach größeren Städten: Der Nordosten wird demografisch von Inuitgruppen dominiert, die auch in Grönland bevölkerungsmäßig und politisch einflussreich sind.

Gastransporte im Nordmeer

"In meiner Forschungsarbeit geht es um den lokalen Fokus, also welche Vor- und Nachteile die bestehenden und zukünftigen Transportinfrastrukturen für die Menschen vor Ort bieten", sagt Peter Schweitzer. "Diese will ich gegenüber externen Interessen sichtbarer machen." Denn der Arktische Ozean gewinnt aufgrund der globalen Erwärmung immer mehr Aufmerksamkeit von internationalen Industrie- und Transportunternehmen.

Durch das zurückgehende Eis wird das Nordmeer besser schiffbar und bietet etwa für Warentransporte von China nach Europa eine alternative Route zum Suezkanal. Der Zugang zu Erdgas wird erleichtert, was etwa für den Bau eines zweiten riesigen Flüssigerdgas-Terminals im Nordwesten Sibiriens gesorgt hat. Das gewonnene Gas wird verflüssigt und per Tanker abtransportiert, und eben nicht durch Pipelines geleitet.

Es geht aber nicht nur um die Rolle des Schiffverkehrs: Durch die globale Erwärmung sind bestehende Straßen und Eisenbahnlinien gefährdet, da der Permafrostboden auftaut. Und: "Flugreisen sind in vielen Gebieten unverzichtbar, weil das Straßennetz kaum ausgebaut ist", sagt Schweitzer.

Anregung zur Selbstkritik

Als Leiter des Instituts für Kultur- und Sozialanthropologie der Uni Wien veranstaltet er gemeinsam mit der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und dem Weltmuseum die Vienna Anthropology Days, die noch bis 1. Oktober Covid-19-bedingt online stattfinden. Ein studentisches Organisationskomitee gestaltet sie maßgeblich mit und versucht, mit virtuellen Kaffeepausen zwischen den mehr als 200 Vorträgen Gesprächsmöglichkeiten zu schaffen.

Diese fallen angesichts der unterschiedlichen Schnittstellen mit anderen Feldern spannend aus: Beleuchtet werden Gesellschaften vom Nordpol bis in den Südpazifik – beispielsweise im Hinblick auf wirtschaftliche oder medizinische Aspekte, digitale Ethnografie oder Kriegsgebiet- und Migrationsforschung.

Und sie regen zu Selbstkritik an: Wie geht man mit dem kolonialen Erbe anthropologischer Sammlungen um? Und wie gehen privilegierte Wissenschafter damit um, wenn sie sich mit Menschen in prekären Verhältnissen wissenschaftlich beschäftigen? (Julia Sica, 2. 10. 2020)