Der Schriftsteller Robert Menasse hat in einer Polemik gegen den Wiener türkisen Spitzenkandidaten Gernot Blümel versucht, eine Linie von Karl Lueger, dem Begründer der "christlich-sozialen" Partei, zur heutigen Wiener ÖVP zu ziehen. Kernaussage: Die "Christlich-Sozialen", "Schwarzen", "Türkisen", was auch immer, seien noch nie gut für Wien gewesen – im Gegensatz zu der seit 100 Jahren herrschenden Sozialdemokratie. Es könnte ganz interessant sein, das zu überprüfen.

Was Gründervater Lueger betrifft, so hat Menasse geistig-politisch recht, kommunalpolitisch aber nicht. Lueger war ein begnadeter Populist und ein ganz übler Antisemit und Rassist. Luegers Antisemitismus war ein mörderisches Instrument, um die "christlichen kleinen Leute" gegen die aufstrebende, zunehmend erfolgreiche Schicht der (zuvor lange diskriminierten) Juden aufzuhetzen. Das hatte Langzeitwirkungen (u. a. auf Hitler).

Plakat der Stadt Wien für die Wien-Wahl am Rathausplatz.
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Langzeitwirkung hatte allerdings auch sein kommunalpolitisches Wirken. Wien verdankt ihm die zweite Hochquellwasserleitung, die Kommunalisierung der Gas-und Stromversorgung und die Straßenbahnen.

Aber mit Lueger war die Ära der christlich-sozialen Großtaten auch schon wieder vorbei. 1919 übernahm die Sozialdemokratie und baute Wien (unter Hassausbrüchen der Christlich-Sozialen) zu einem sozialen Musterstück aus, vor allem durch die Gemeindebauten. Davon lebt Wien zu einem großen Teil noch heute.

Mit der Errichtung des autoritär-christlichen Systems unter Engelbert Dollfuß war das vorbei, aber die Nazis machten Schluss mit der lächerlichen Möchtegerndiktatur und führten eine richtige ein. Wien blieb (wegen Hitlers Antipathie) links liegen.

Intellektuelle Erstarrung

Nach dem Krieg setzte sich die beachtenswerte Aufbauleistung der Wiener SPÖ fort, mündete allerdings nach etlichen Jahrzehnten in Bonzentum, Machthaberei und intellektueller Erstarrung. Dagegen entstand unter dem intellektuellen ÖVP-Politiker Erhard Busek Ende der 1970er-Jahre (unter dem Einfluss des Schriftstellers Jörg Mauthe) eine Gegenbewegung – die "bunten Vögel". Eine Mischung aus Umweltgedanken, liberalem Katholizismus, Wunsch nach einem freieren, moderneren Lebensstil.

Bei den Wiener Gemeinderatswahlen 1978 errang Buseks Wiener ÖVP 34 (in Worten: vierunddreißig) Prozent.

Die SPÖ reagierte blitzartig und holte sich den liberalen Populisten Helmut Zilk als Spitzenkandidaten. Der stahl Busek die meisten seiner Ideen, vor allem im Bereich Kultur und Lebensstil. Dagegen konnte Busek wenig tun. Wien wurde von einer "grauen" zu einer bunten Stadt, die Wiener ÖVP wurde allmählich wieder grau und verspielte Buseks Erbe bis zu den 9,5 Prozent anno 2015.

Die heutige ÖVP hat keinen übergeordneten Gedanken für die Stadt, außer den von der FPÖ gestohlenen Ausländerhass. Viele Ideen außer einer leichten Ergrünung hat auch die aktuelle SPÖ nicht. Sie verwaltet, durchaus effizient, das große Erbe der Sozialdemokratie. Sie versucht tastend mit der Megaherausforderung umzugehen, dass 40 Prozent der Bevölkerung Migrationshintergrund haben. Aktuell droht eine Wirtschaftskrise. Da hört man von der SPÖ wenig, von der ÖVP noch weniger. (Hans Rauscher, 29.9.2020)