Eine Aufnahme vom Ballhausplatz am 26. September 1950. Am Tag zuvor nahm die Streikbewegung Fahrt auf.

Foto: Alfred Klahr Gesellschaft

Ganze 65 Jahre hat es gedauert, bis sich ein Team aus Historikern und Historikerinnen zusammensetzte, um die Ereignisse vom Herbst 1950 aufzuarbeiten. Was damals passierte, war ein Schlüsselereignis der österreichischen Geschichte, die Streiks waren die bis dahin größten der Zweiten Republik. Doch noch heute finden sie auf ganz unterschiedliche Weise Niederschlag in Geschichtsbüchern.

Fast 200.000 Arbeiterinnen und Arbeiter legten damals ihre Tätigkeit nieder. Fast 800 Betriebe waren betroffen – begonnen hatte es am 25. September in der Voest in Linz und in 14 Wiener Betrieben, verbreitete sich weiter über Niederösterreich, die Steiermark und Salzburg, bis am 5. Oktober in der Floridsdorfer Lokomotivfabrik beschlossen wurde, die Arbeit wiederaufzunehmen.

Arbeiter marschieren zur Demo am Ballhausplatz.
Foto: Bildarchiv ÖGB

Der Hauptgrund dafür, so weiß man heute, war das vierte Lohn-Preis-Abkommen, das Teuerungen bei Grundnahrungsmitteln brachte. Die Erzählweise, die lange vorherrschte, war jedoch eine andere: Ein kommunistischer Putschversuch sei das gewesen, hieß es von der SPÖ wie vom Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB), mit dem Ziel der Kommunisten, Österreich zu einem Teil der Sowjetunion zu machen. Der Ex-Innenminister Franz Olah, im Jahr des Streiks Bau- und Holz-Gewerkschaftschef, vertrat diese These sogar noch im Jahr 2005, vier Jahre vor seinem Tod.

Wendepunkt 2015

78 Gewerkschaftsmitglieder wurden wegen ihrer Teilnahme aus dem ÖGB ausgeschlossen. Sie im Nachhinein zu finden, sagt Historiker Peter Autengruber, sei mühselig gewesen. In den Gewerkschaftszeitungen wurden die Ausschlüsse bekanntgegeben "in Dreizeilern", sagt Autengruber, "und oft erst nach Jahren". Erst 2015 beschloss der ÖGB, sie zu rehabilitieren und die Geschichtsbücher umzuschreiben.

Warum hat das so lange gedauert? In der Wissenschaft habe, so sagt Autengruber, die Auseinandersetzung vergleichsweise früh begonnen. Auch weil in den 1970ern "eine neue Generation an Historikern aufgetreten ist, die halt manches infrage gestellt hat".

Der ÖGB nahm das eigene 70-Jährige Bestehen als Anlass zur Aufarbeitung und setzte 2015 eine Historikerkommission ein. "Mit dem emotionalen Abstand und den neuen Erkenntnissen ist es nun möglich, sich endgültig von bisherigen traditionell eingefahrenen Bildern zu lösen", schrieb der damalige ÖGB-Präsident Erich Foglar im Vorwort des Buchs "Oktoberstreik" von Autengruber und Manfred Mugrauer, das ebenjene Aufarbeitung dokumentiert.

Die Renaissance des Mythos

Tatsächlich wurden laut Autengruber ÖGB-Skripten angepasst, Schulungsunterlagen für Betriebsräte und Funktionärinnen und Funktionäre wurden überarbeitet.

Einige Schulbuchverlage sahen keinen Grund zu Änderungen. So schreibt etwa der Verlag Hölzel auf Anfrage, man würde den Oktoberstreik in aktuellen Lehrbüchern mit folgendem Zitat behandeln: "Die KPÖ übernahm die Agitationsführung. (...) Der Generalstreik am 4. Oktober scheiterte: KP-Rollkommandos versuchten, streikunwillige Betriebe mit Gewalt zum Streik zu zwingen, die Bau- und Holzarbeiter (...) antworteten mit Gegengewalt." Dieses Zitat sei "relativ ausgeglichen" schreibt der Verlag, denn sowohl der KPÖ als auch dem ÖGB werde Verantwortung für die Eskalation gegeben.

Beim Verlag Veritas hingegen hieß es schon vor dem Zeitpunkt, an dem die ÖGB-Kommission ihre Arbeit aufnahm: "Er ging als 'kommunistischer Putschversuch' in die Geschichte ein. Erst in jüngster Zeit wurde zugegeben, dass es sich tatsächlich nicht um einen Putschversuch handelte."

Ganz anders sieht es außerhalb der Schulbücher aus. So sprachen in den letzten Jahren manche Historiker und im Jahr 2017 auch der ehemals Dritte Nationalratspräsident der FPÖ, Wilhelm Brauneder, uneingeschränkt von einem "Putsch der KPÖ", wie Mugrauer in einem aktuellen Artikel schreibt. Das Resümee Mugrauers: Der Putschmythos erlebt gerade eine Renaissance. (Gabriele Scherndl, 1.10.2020)