Abbild vom Abbild: Seine Landschaften malte Gerhard Richter stets nach Fotovorlagen. Die ideale Welt ist eine manipulierte.
Foto: Robert Bayer / Gerhard Richter 2020

957– diese Zahl steht am Ende des Werkverzeichnisses von Gerhard Richter. Beinahe 1.000 Gemälde und Skulpturen schuf der bekannteste – und höchstdotierte – deutsche Maler der Gegenwart zwischen 1962 und 2020. Erstaunlich an diesem umfassenden Schaffen ist nicht nur dessen Umfang, sondern auch die sich ständig variierende Diversität seines Œuvres.

Sei es die Technik, das Medium oder der Inhalt. Ein einziger Stil konnte Richter nie zugeordnet werden. Er war immer mehrere Künstler zugleich. Erst kürzlich stellte er abstrakte Kirchenfenster im ältesten Kloster Deutschlands fertig. Das war die Nummer 957, die letzte.

Denn erst vergangene Woche machte der in Köln lebende Künstler bekannt, dass er den Pinsel für immer aus der Hand legen wolle. Zwar werde er weiterhin zeichnen, doch das Arbeiten an seinen großformatigen Leinwänden sowie das körperlich anspruchsvollen Verarbeiten der Farbe seien ihm mit 88 Jahren zu viel geworden. Irgendwann sei eben Ende, sagte er.

Wiederkehrender "Safe place"

Dass ihm das Bank-Austria-Kunstforum in Wien genau jetzt eine große Retrospektive widmet, die seine Malerei in den Fokus stellt, scheint sich gut zu fügen. Lange ist es her, dass dem "deutschen Picasso" eine große Ausstellung in Wien ausgerichtet wurde, die letzte fand 2009 in der Albertina statt.

Mit Gerhard Richter: Landschaft schließt das Kunstforum eine bisher klaffende Lücke. Denn so divers sein Werk auch ist, zu einem Thema kehrte er immer wieder zurück: der Landschaft. Dass die Schau die umfangreichste ist – insgesamt sind es 130 Arbeiten –, die weltweit zu dem Thema gezeigt wird, verwundert.

Immerhin macht das Sujet mit Landstrichen, Seeblicken und Himmelsausschnitten etwa ein Fünftel seines Werks aus. Lisa Ortner-Kreil, die die Schau gemeinsam mit dem deutschen Kunsthistoriker Hubertus Butin kuratiert hat, nennt es seinen "safe place", von dem aus er sich immer wieder neu orientierte.

Vermeintliche Idylle: Der ideale Ausblick wird von der brutalen Ruhrtalbrücke gestört.
Foto: Stefan Altenburger / Photography Zürich

Verlogene Horizonte

Dennoch wurden Richters Landschaften lange Zeit stiefmütterlich behandelt. Erst vor fünfzehn Jahren begann man sich des Themas verstärkt anzunehmen. Aber als Richter Ende der 1970er-Jahre begann, Bilder inspiriert von Caspar David Friedrichs Landschaftsmotiven zu malen, galt das Genre als rückwärtsgewandt. Zu romantisch und verträumt muteten die tiefen Horizonte und der breite Abendhimmel an.

Auch heute könnte man darin Kitsch oder Nostalgie ausfindig machen. Doch Vorsicht! Das lassen einen Richters Bilder nur glauben. Der Künstler selbst bezeichnete seine Landschaften einmal als "verlogen". Er manipuliert diese ideale menschenleere Welt. Er zerteilt sie in schmale Ausschnitte, setzt Beschriftungen frech darunter oder lässt ganze Landstriche verschwimmen. Immer wieder bricht er die vermeintliche Idylle. Sieht man sich die Ruhrtalbrücke an, hat man plötzlich Sehnsucht nach diesem Ort, an dem man noch nie war. Und gleichzeitig merkt man, wie diese brutale Brücke den Ausblick trübt. Ordinär stößt sie sich in den pastelligen Himmel.

Der allmächtige Richter

Nicht ohne Grund nennt Richter jene Arbeiten "Kuckuckseier": Zwar könne er sich der Motive der deutschen Romantik bedienen, ihre geistige Tradition aber nicht fortsetzen. So erhaben seine wattigen Wolken auch dahintreiben, niemals sind sie Symbol für irgendetwas.

Surreale Welten: Pastose Farbschleier fegen über die Landstriche hinweg.
Foto: Gerhard Richter 2020

Ein klassischer Landschaftsmaler ist Richter nicht. Wie so oft bedient er sich auch bei diesem Genre an Fotovorlagen. Seine Natur entsteht nie nach wahrhaftigem Vorbild, nie "en plein air". Es sind "Landschaften aus zweiter Hand".

Von hier an macht die Ausstellung deutlich, wie Richter ab Mitte der 70er seine Landschaften in die Abstraktion driften lässt. Es beginnt ein Spiel: Die Farbschlieren im meterlangen Gemälde St. Gallen lassen an einen verwischten Birkenwald denken. Im Seestück spiegeln sich Gewitterwolken und aufgeraute Wellen fast wie in einem dystopischen Raum. Zeichnungen zeigen, dass Richter dieses doch so zeitgenössisch wirkende Bild vor bereits 50 Jahren schuf – und dafür noch zwei Fotos aneinanderklebte.

Zeitlose Fiktion

Die ordentlich in fünf thematische Kapitel gegliederte Schau funktioniert und unterwirft sich keiner Chronologie. Zeit scheint es in Richters Werken nicht zu geben.

Zum Schluss hin wird es immer surrealer. Der Künstler erhebt sich in seiner Allmächtigkeit: 1968 malträtierten Richter und Sigmar Polke das Foto eines Gebirges so lange, bis es sich in einen Kreis verwandelte. Jahre später formte Richter eine glatte, dreidimensionale Kugel daraus. Da liegt sie jetzt.

In den letzten Bildern fegen pastose Farbschleier über die Landstriche hinweg. Die Übermalungen heften sich an die Bäume, beißen sich in die Seeufer und den Himmel – die Welt wird endgültig zur Fiktion. (Katharina Rustler, 30.9.2020)