Was tut ein Klub mit Mitgliedern, die sich nicht an grundlegende Regeln halten, aber die man weder bestrafen noch ausschließen kann, weil dafür die Übeltäter selbst zustimmen müssten? Kein Verein würde solche Statuten für sich beschließen. Die Europäische Union hat es einst getan – und steht jetzt hilflos der Tatsache gegenüber, dass Polen und Ungarn systematisch demokratische Grundwerte, das wichtigste Fundament der europäischen Integration, untergraben.

Von den beiden Sorgenkindern ist Ungarn das größere Problem. Die polnische Regierungspartei PiS ist zwar genauso wenig an Pluralismus und Meinungsfreiheit interessiert wie die ungarische Fidesz. Aber die Mannschaft rund um Jarosław Kaczyński geht innen- und europapolitisch weniger überlegt und geschickt vor, um ihre Macht auszubauen, und sie steht auch einer stärkeren Opposition der Zivilgesellschaft gegenüber. Für Brüssel ist Polen ein schwieriger, aber kein unmöglicher Partner.

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Viktor Orbán tritt Demokratie und Rechtsstaat im eigenen Land mit Füßen.
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Viktor Orbán hingegen tritt Demokratie und Rechtsstaat im eigenen Land noch viel konsequenter mit Füßen und hat gegenüber den EU-Partnern eine Taktik entwickelt, die ihn schwer fassbar macht. Er sorgt dafür, dass all seine Maßnahmen der Politik anderer Staaten zumindest äußerlich ähneln und gerade noch rechtlich gedeckt sind. Wenn er einmal eine Grenze überschreitet, rudert er rasch zurück. Wer der ungarischen Regierung Verletzung des Rechtsstaates vorwirft, hat im Großen natürlich recht, tut sich aber im Detail mit der Beweisführung schwer.

Ständiges Zurückschlagen

Das nutzt Orbán aus, indem er sich vehement auch gegen die sanfteste Kritik wehrt und sogleich zum Gegenangriff übergeht. Ungarische Diplomaten tauchen regelmäßig in Redaktionen auf, weil schon wieder so böse und unfair über ihr Land geschrieben wurde.

Diese Politik des ständigen Zurückschlagens bekommen auch Spitzenpolitiker zu spüren – zuletzt die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Věra Jourová, die in einem Interview von einer "kranken Demokratie" in Ungarn sprach. Die tschechische Politikerin hat das Recht und die Pflicht, Ungarn zu kritisieren, schließlich ist sie für europäische Werte zuständig. Aber Budapest legt nun alle Kontakte zu ihr aufs Eis.

Orbáns Angriff kam nur wenige Tage, nachdem die deutsche EU-Präsidentschaft die Drohung, dass Staaten die Kürzung von EU-Fördergeldern riskieren, wenn sie rechtsstaatliche Normen verletzen, bis zur Zahnlosigkeit verwässert hatte. Damit will Berlin verhindern, dass Ungarn und Polen das ganze Corona-Wiederaufbauprogramm blockieren.

In Wahrheit hat niemand in der EU ein wirksames Mittel, um auf Ungarn einzuwirken. Moralische Standpauken helfen genauso wenig wie die stille Diplomatie, die Wien betreibt – und der ÖVP den Ruf einhandelt, Orbán-Beschwichtiger zu sein. Der Verbleib der Fidesz in der Europäischen Volkspartei mäßigt die Politik in Budapest nicht, aber auch ein Hinauswurf würde nichts bringen. Und je lauter die EU-Partner schreien, desto besser wirkt Orbáns nationalistische Rhetorik im eigenen Land. Dieses Phänomen kennt man in Österreich auch.

Die Mitgliedsstaaten haben der EU nie die Macht in die Hand gegeben, gegen solche Verstöße erfolgreich vorzugehen. Eine Wende in Ungarn oder Polen kann letztlich nur von innen kommen. Der Rest Europas kann den Widerstand anfeuern, aber sonst nur wenig tun. (Eric Frey, 30.9.2020)