Der 59-jährige Georgios Koumoutsakos ist Mitglied der konservativen Nea Dimokratia und war lange Zeit im EU-Parlament.

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Flüchtlinge werden von Lesbos auf das Festland gebracht: Koumoutsakos fordert anerkennende Worte für Griechenland und mehr Solidarität.

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STANDARD: Wie beurteilen Sie den neuen Migrationspakt?

Koumoutsakos: Die Kommission hat sich bemüht, einen Ausgleich zwischen den Sichtweisen der Mitgliedsstaaten zu finden. Wir sehen den Vorschlag als eine Grundlage für Verhandlungen, und was uns betrifft, werden sie hart werden – denn es gibt in dem Vorschlag Punkte, die Anlass zur Sorge geben. Wir fünf Frontländer in der Frage der Migration (Griechenland, Malta, Spanien, Italien und Zypern, Anm.) diskutieren diese Punkte, und andere Staaten wie Bulgarien könnten uns folgen.

STANDARD: Man will vor allem die Rückführungen beschleunigen.

Koumoutsakos: Eine rasche Rückführung hängt nicht von uns ab, sondern von anderen, etwa Staaten wie Pakistan oder Afghanistan. Und dazu braucht es Anreize, die Leute zurückzunehmen, oder Gegenanreize, damit sie gar nicht weggehen. Diese habe ich in dem Vorschlag nicht gefunden. Solche Anreize oder Gegenanreize kann die EU innerhalb der Entwicklungspolitik setzen, dadurch könnte man schnelle Rückführungen erreichen.

STANDARD: Die vorgeschlagene Patenschaft für Rückführungen sieht vor, dass EU-Staaten, die keine Flüchtlinge aufnehmen, für andere EU-Staaten Rückführungen übernehmen. Ist das für Athen hilfreich?

Koumoutsakos: Die Patenschaft für Rückführungen ist nur dann wirklich interessant, wenn der Staat, der sich dazu bereiterklärt, auch tatsächlich die Migranten aufnimmt, die zurückzuführen sind. Ich weiß nicht, ob diese Form von Solidarität von anderen EU-Staaten akzeptiert wird. Ich kenne dazu die Position der Visegrád-Staaten nicht. Wenn sie das nicht akzeptieren, verbleiben wir Frontstaaten jedenfalls wieder ohne eine substanzielle Hilfe.

STANDARD: Darf ein Staat wie Ungarn überhaupt eine Rückführentscheidung umsetzen, die Griechenland gefällt hat?

Koumoutsakos: Wir sehen im EU-Recht Möglichkeiten dazu. Es gibt eine EU-Richtlinie, die besagt, dass die EU-Staaten wechselseitig die Rückführungsentscheidungen anerkennen. Das soll verpflichtend sein. Wenn also ein Asylwerber in Griechenland abgelehnt wird, von Griechenland aus abgeschoben werden soll und später in Polen gefunden wird, dann kann Polen diese Person in sein Heimatland rückführen. Wir denken, dass die Patenschaften für Rückführungen eine Art Anerkennung der Rückführungsentscheidungen sein können. Griechenland wäre entlastet, und diese Staaten, die die Rückführungen organisieren, könnten sagen, dass sie solidarisch mit jenen sind, die die EU-Außengrenzen schützen – was auch ihrer Rhetorik entsprechen würde. Dann wäre das keine Solidarität im Rahmen der Umsiedlung von Flüchtlingen, sondern im Rahmen der Rückführung von abgelehnten Asylwerbern. Aber wenn diese Staaten die Leute nicht einmal aufnehmen, bevor sie sie abschieben, ist der Anreiz sehr gering, sie rückzuführen.

STANDARD: Entlastet es Griechenland mehr, wenn andere EU-Staaten Schutzbedürftige aufnehmen, die noch kein Asyl bekommen haben, oder bereits anerkannte Flüchtlinge?

Koumoutsakos: Die Aufnahme von Schutzbedürftigen wäre für uns wirklich hilfreich, und darin haben wir ja auch Erfahrung. Da geht es um Familien mit Kindern, Kranke oder unbegleitete Minderjährige. In Europa sollte man Migration nicht von Krise zu Krise managen, sondern eine sinnvolle Politik gestalten, in der Zuständigkeiten geteilt werden und durch die eine effektive Solidarität entsteht.

STANDARD: Einige Staaten haben angeboten, Geflüchtete aus Griechenland aufzunehmen, Deutschland etwa 1.500 Menschen. Ist das nur symbolisch, oder hilft das wirklich?

Koumoutsakos: Das ist schon etwas. Griechenland musste in den vergangenen sechs Monaten zwei Krisen im Zusammenhang mit Migration managen. Zuerst hat die Türkei Migranten über die Landgrenze am Evros geschickt, und dann wurde das Lager Moria in Brand gesetzt. In beiden Fällen gab es ein positives Momentum der Solidarität mit Griechenland, aber erst nachdem die Krise ausgebrochen war. In Europa sollte man aber nicht Migration managen, indem man von Krise zu Krise geht, sondern man sollte eine sinnvolle Politik gestalten, in der Zuständigkeiten geteilt werden und dadurch eine effektive Solidarität entsteht. Wir sind dankbar für die Solidarität, die es bisher gab, aber diese Solidarität darf nicht von Krisen abhängen – und sie muss reglementiert werden.

STANDARD: Regierungen wie jene in Österreich wollen keine Flüchtlinge aufnehmen. Kanzler Sebastian Kurz kommt diese Woche nach Athen. Wie sehen Sie diese Position?

Koumoutsakos: Österreich könnte ein Vorreiter bei der Patenschaft für Rückführungen werden. Das Hauptargument dieser Staaten ist, dass Übersiedlungen von Flüchtlingen in andere EU-Staaten einen Pull-Faktor darstellen würden und dadurch mehr Leute aufbrechen würden. Das ist aber nur die Hälfte des Arguments, denn der Pull-Faktor ist Europa selbst! Die Leute brechen nicht auf, weil es Übersiedlungen von griechischen Inseln nach Portugal gibt. Europa hat eine alternde Bevölkerung, es ist relativ wohlhabend, ökonomisch stark, friedlich, demokratisch, und die Bevölkerungszahl nimmt ab. In anderen Teilen der Welt leben junge Menschen, das Bevölkerungswachstum ist dort riesig, es gibt autoritäre Regime, Krisen, Konflikte und schwache Volkswirtschaften. Deshalb bitten wir um mehr Verständnis bei anderen EU-Staaten. Zurzeit hat man einen sehr bürokratischen Zugang, wenn es um Solidarität geht.

STANDARD: Wäre es ein Modell, wenn in Griechenland anerkannte Flüchtlinge auch in anderen EU-Staaten anerkannt würden und dort bleiben könnten, wenn sie dorthin reisen?

Koumoutsakos: Während der Verhandlungen zum Migrationspakt werden viele neue Ideen auftauchen. Das könnte eine davon sein.

STANDARD: Haben Sie Sorge, dass es Nachahmer für die Brandstiftung geben könnte, wenn man Flüchtlinge von Lesbos aufs Festland bringt?

Koumoutsakos: Es darf nicht als Botschaft genutzt werden, dass jemand ein Lager in Brand setzt und in der Folge dorthin gelangen darf, wo er hinwill. Deshalb sind wir sehr vorsichtig. Es werden nun Leute von allen griechischen Inseln aufs Festland gebracht, nicht nur von Lesbos. Für 1.500 Flüchtlinge werden wir drei bis vier Monate brauchen.

STANDARD: Wird das Aufnahmezentrum auf Lesbos dort erbaut werden, wo nun das Lager Kara Tepe ist?

Koumoutsakos: Zum jetzigen Zeitpunkt sollten wir auf dieser Basis weiterarbeiten. Wir haben erfolgreich innerhalb von drei, vier Tagen das neue Zeltlager nach dem Brand errichtet. Die neue Herausforderung ist, es winterfest zu machen.

STANDARD: Wird es im Winter bereits befestigte Häuser oder Container im Lager geben?

Koumoutsakos: Diese Woche kommen bereits 153 Container aus Polen.

STANDARD: Die Flüchtlinge in Kara Tepe beschweren sich, dass es keine Duschen gibt und zu wenige Mahlzeiten.

Koumoutsakos: Das wird gelöst werden. Die Situation war aber sehr herausfordernd, auch angesichts der Spannungen mit der Türkei und der Covid-19-Pandemie. Ich finde, wir verdienen ein paar anerkennende Worte. Wir haben bereits am Tag nach dem Brand 406 unbegleitete Minderjährige von Lesbos ausgeflogen. Die werden in das Projekt der Umsiedlungen einbezogen.

STANDARD: Wie viele Leute sollen in dem neuen Aufnahmezentrum auf Lesbos untergebracht werden?

Koumoutsakos: Unser Ziel ist, die Insel zu entlasten, sodass es dort vielleicht 5.000 Flüchtlinge oder weniger gibt. Es wird auch gerade ein neues Zentrum auf Samos gebaut. Auch in Leros und Kos gibt es solche Zentren. Auf Chios wird das Zentrum renoviert.

STANDARD: Gehen Sie von geringeren Ankunftszahlen auf den griechischen Inseln aus?

Koumoutsakos: Nach der Krise am Evros haben wir die Erfahrungen von März in unsere Politik eingebaut. Die Anzahl der Ankünfte auf den Inseln wurde um 85 bis 90 Prozent reduziert. Aber wir können nicht davon ausgehen, dass das die neue Realität sein wird. Wir müssen von schwierigeren Umständen ausgehen. Die geringeren Ankünfte auf den Inseln haben uns Zeit verschafft, mit dem Rückstau bei den Asylanträgen umzugehen. Wenn es zu einer Wiederaufnahme des EU-Türkei-Paktes kommen sollten, könnte das so bleiben. Man sollte aber in absehbarer Zeit diesen EU-Türkei-Pakt neu diskutieren, denn wenn es um Rückführungen geht, so muss man ab einem gewissen Zeitpunkt auch die Arbeitsbeziehung zur Türkei diskutieren. Das sollte möglichst schnell passieren.

STANDARD: In den vergangenen Monaten haben Schiffe der türkischen Küstenwache Boote mit Flüchtlingen in die griechischen Gewässer begleitet. Es gibt in diesen Gewässern zwischen der Türkei und Griechenland auch eine Art Kampf, wenn es um die Zuständigkeit für Migranten geht.

Koumoutsakos: Es gibt Höhen und Tiefen, wenn es um das Verhalten der Küstenwache geht. Es gibt Zeiten, in denen sie kooperieren, und wenn wir dann ein Signal senden, dass ein Schlauchboot mit Flüchtlingen in ihren Gewässern ist, kommen sie und tun, was sie tun müssen. Und dann gibt es Wochen, da antworten sie nicht. Aber seit März, seit der Krise am Evros, verweigern sie jegliche Rücknahme von Flüchtlingen. Wir denken, dass ein neues Abkommen mit der Türkei ein zusätzlicher positiver Schritt wäre. (Adelheid Wölfl, 30.9.2020)