Wohnstraßen sind eigentlich der natürliche Zustand der Stadt, sagt Barbara Laa: "Früher haben die Kinder auf der Straße gespielt, die Fußgänger durften die ganze Fahrbahn nutzen. Erst im Laufe der Zeit hat das Auto immer mehr Platz bekommen. Diese Fehlentwicklung müssen wir nun rückgängig machen."

Fotos: Redl

Wer durch die Wohnstraße Redtenbachergasse in Wien-Hernals spaziert, der merkt keinen Unterschied. Bis auf das blaue Schild, das viele aus dem Unterricht in der Fahrschule kennen dürften, ist hier alles wie in jeder anderen Straße auch: parkende Autos am Straßenrand, Gehsteige, regelmäßig fahren Autos von der Hernalser Hauptstraße in die Sautergasse.

Und das, obwohl das hier eigentlich verboten ist, denn nur Zu- und Abfahren in Schritttempo ist in Wohnstraßen erlaubt. Allerdings: Die meisten der durchfahrenden Autofahrer an diesem regnerischen Mittwochvormittag sind viel schneller unterwegs und wissen nicht, dass sie gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen. Manche können sich allerdings dunkel daran erinnern, als sie darauf hingewiesen werden. "Ah, stimmt", heißt es dann.

Immerhin: Das ist mehr, als die meisten Fußgänger in der Redtenbachergasse darüber wissen, was in einer Wohnstraße alles erlaubt ist; etwa spielen oder Spazierengehen auf der Straße, mit dem Fahrrad in beide Richtungen durchfahren – ungeachtet etwaiger Einbahnregelungen – oder sogar in Parklücken mit selbst mitgebrachten Möbeln ein Kaffeekränzchen abhalten. Nur eines gilt: Der zulässige Verkehr darf nicht mutwillig behindert werden. Damit sind Wohnstraßen quasi ein verlängertes Wohnzimmer vor der eigenen Haustür.

Große Unwissenheit

Doch leider wissen das viele Stadtbewohnerinnen und -bewohner nicht. Auch im Café Melodie 81 in der Redtenbachergasse ist man überrascht. "Wir haben sogar schon einmal mit den Schulkindern geschimpft, weil sie auf der Straße gespielt haben", erzählt eine Frau, die aus dem Lokal kommt und auf ihr Fahrrad steigt. "Damit darf ich aber fahren, oder?", fragt sie und radelt davon. Ein anderer Gast, der eine Jeansjacke trägt, in der Tür steht und eine Zigarette raucht, sagt: "Das weiß niemand, welche Regeln hier gelten, die Autofahrer fahren alle durch." Selbst wenn es nicht regnet, erzählt ein Mitarbeiter der Straßenreinigung, der gerade durch die Redtenbachergasse unterwegs ist, sei auf der Straße kaum was los.

Brigitte Vettori nennt es ein Henne-Ei-Problem. Sie ist Kultur- und Sozialanthropologin und engagiert sich mit ihrer Initiative Space and Place seit drei Jahren für mehr Leben auf Wohnstraßen. Vielen dieser Straßen sehe man nicht an, dass sie anders sind. Wenn Autos unerlaubterweise durch die Wohnstraße fahren, können Anwohner sie nicht nutzen, wie es legal möglich wäre. Andererseits: Wenn niemand die Straße nutzt, verstehen die Autofahrer nicht, dass es sich um eine besondere Straße handelt.

Wohnstraßen gestalten

Kontrollen wären eine Lösung. "Doch warum sollte die Polizei kontrollieren, wenn ohnehin niemand die Wohnstraßen nutzt?" Es brauche Möbel, auf denen man sich niederlassen kann, sowie Pflanzen, Brunnen, Poller – oder die Angleichung des Straßenniveaus in allen Bereichen, wie es in Begegnungszonen gemacht wird. Im 15. Bezirk hat Space and Place zuletzt Blumen auf den Boden einer Wohnstraße gemalt – "damit sie sichtbarer und anders wahrgenommen wird", so Vettori.

Wenn Wohnstraßen baulich ansprechend gestaltet sind, "zeigt das den Menschen, dass sie sich überall auf der Fahrbahn bewegen dürfen und es gibt nicht diese Trennwirkung durch geparkte Autos", sagt Barbara Laa von der TU Wien und Sprecherin von Platz für Wien. Die Initiative setzt sich in Wien für mehr Platz zum Radfahren, Zu-Fuß-Gehen, Verweilen im öffentlichen Raum sowie für mehr Grünraum ein. Doch nicht immer müssen es gleich bauliche Veränderungen sein, auch temporäre Maßnahmen können viel bewirken. "Um für die Menschen erlebbar zu machen, wie man den Raum in der Stadt auch anders nutzen könnte", sagt Laa.

Fehlende Kultur

194 Wohnstraßen gibt es in Wien, die insgesamt 40 Kilometer lang sind und so groß wie 57 Fußballfelder. Eingeführt wurde das Konzept im Jahr 1983 als eine Art Verkehrsberuhigung, weniger, um das Wohnumfeld aufzuwerten. "Leider fehlt die Kultur des Wohnstraßenlebens dazu", sagt Vettori und wünscht sich von der Politik, mehr auf die Möglichkeiten in Wohnstraßen aufmerksam zu machen.

Zumal Wohnstraßen so gefragt seien wie selten zuvor. Auch in Wien leben Menschen oft in zu kleinen Wohnungen, das hat zuletzt auch die Corona-Krise gezeigt. "Sie sind darauf angewiesen, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten, vor allem in den heißen Sommermonaten", sagt Laa und spricht von der Wohnstraße als einem eigentlich natürlichen Zustand der Stadt. "Früher haben die Kinder auf der Straße gespielt, die Fußgänger durften die ganze Fahrbahn nutzen. Erst im Laufe der Zeit hat das Auto immer mehr Platz bekommen. Diese Fehlentwicklung müssen wir nun rückgängig machen."

Straße als Pausenraum

Zurück in der Wohnstraße Redtenbachergasse. Hier liegen nicht nur das Café Melodie 81, sondern auch ein Wohnhaus für ehemals obdachlose Männer sowie eine Mittelschule. "Was? Auf der Straße dürfen wir Fußball spielen?", sagen zwei Schüler, die sich gerade auf den Heimweg machen und gar nicht glauben können, was sie da hören.

In der Gaullachergasse im 16. Bezirk ist das anders. Seit Vettoris Initiative dort vorgezeigt hat, wie die Wohnstraße vor der Tür genutzt werden kann, ist sie zum Pausenraum für die Volksschule geworden.

Während es in Hernals nur vier Wohnstraßen gibt, sind andere Bezirke besser ausgestattet – etwa der 15. Wie viele andere Bezirke in Gürtelnähe ist er dicht besiedelt, und es gibt kaum Grünraum. "Daher sind Wohnstraßen dort besonders wertvoll", sagt Vettori. Gleich hinter der Stadthalle liegt das erste Wiener-Wohnstraßen-Grätzel mit gleich sieben Wohnstraßen nebeneinander. Vettori nennt es einen ersten möglichen Superblock in Wien. Mit diesem Begriff werden in Barcelona aneinanderliegende Häuserblöcke bezeichnet, in denen kein Durchzugsverkehr erlaubt ist.

Übrigens kann jede Bürgerin und jeder Bürger bei der Bezirksvertretung die Errichtung einer Wohnstraße vorschlagen. "Neben dem Wienerwald oder in einer Gegend mit vielen Gärten wird es nicht so notwendig sein", sagt Vettori und spricht einen zusätzlichen Punkt an, der für die Wohnstraßen spricht: "Wobei – dort ist erst recht wieder jeder in seinem eigenen Garten. Wo man, anders als auf der Wohnstraße, keine neuen Menschen kennenlernt." (Bernadette Redl, 21.10.2020)