Eine Mehrheit der EU-Staaten hat das Verfahren in die Wege geleitet.

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Brüssel – Die EU-Kommission hat in einem Bericht zum Thema Rechtsstaatlichkeit Defizite in einigen Mitgliedsstaaten ausgemacht. Im Zuge des sogenannten Rechtsstaats-TÜV analysierte die Kommission erstmals den Zustand von Gewaltenteilung, Medienvielfalt und der Unabhängigkeit der Justiz in allen 27 EU-Ländern. Besonders kritisiert wurden Ungarn und Polen, aber auch bei Österreich gibt es Bedenken.

Außerdem hat eine Mehrheit der EU-Staaten am Mittwoch ein Verfahren zur Bestrafung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Union in die Wege geleitet. Trotz Drohungen von Ungarn und Polen bekam ein entsprechender Vorschlag der deutschen EU-Ratspräsidentschaft die erforderliche Unterstützung.

Polen und Ungarn in der Kritik

Die Corona-Krise sei eine Art "Stresstest" für die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit in den EU-Staaten, heißt es in dem Bericht der Kommission. Einige Maßnahmen, die einzelne Staaten wegen der Krise ergriffen hätten, seien zu weit gegangen. "In bestimmten Mitgliedsstaaten wurden Medien und die Zivilgesellschaft neuen Hürden ausgesetzt." Zudem sei die Unabhängigkeit der Justiz unterwandert worden. Konkret werden in dem Bericht Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Kroatien und die Slowakei genannt.

"Polens Justizreformen seit 2015 sind Quell großer Kontroversen", heißt es in dem Bericht. Auch in Ungarn seien Änderungen in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz Anlass zur Sorge. Mit Blick auf Korruption äußerte die Kommission Kritik an Bulgarien, Kroatien, Tschechien, Ungarn, Malta und der Slowakei.

Ungarns Justizministerin Judit Varga bezeichnete den Bericht als "absurd und unwahr". Konzept und Methodik des Berichtes seien fehlerhaft, seine Quellen unausgewogen, sein Inhalt unbegründet, kritisierte Varga. "Es ist inakzeptabel, dass der Bericht in Wahrheit von solchen Organisationen geschrieben wurde, die eine abgestimmte politische Kampagne gegen Ungarn führen".

Bedenken zu Medienpluralismus in Österreich

Österreich stellte die Kommission zwar grundlegend ein gutes Zeugnis aus, verwies aber gleichzeitig auf Mängel. So bestünden Risiken für den Medienpluralismus, heißt es in dem Dokument. Angesprochen wird das fehlende Recht auf Zugang zu Information, aber auch Regierungsinserate: "Österreich weist Medienunternehmen relativ viele staatliche Inserate zu, und es wurden Bedenken hinsichtlich eines möglichen politischen Einflusses auf eine solche Zuteilung geäußert, da keine Regeln für eine gerechte Verteilung vorlagen", heißt es in dem Dokument.

In Sachen Korruption stellte die Kommission fest, Österreich verfüge über "den rechtlichen und institutionellen Rahmen zur Verhinderung und Verfolgung von Korruption". Herausforderungen bestünden jedoch hinsichtlich der Rahmenbedingungen für Integrität der Parlamentarier. Zwar gebe es einen rechtlichen Rahmen für Lobbying, dieser sei aber begrenzt. Außerdem sei die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft mit "begrenzten Ressourcen" und "umfassenden Berichtspflichten" konfrontiert.

Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) bezeichnete den Bericht als einen "wichtigen Schritt und eine Chance zur Einführung eines Instruments das auf Basis gleicher Parameter die Rechtsstaatlichkeit messbar macht". Außerdem pochte sie auf eine "Verzahnung der Rechtsstaatlichkeit und dem Budget der EU". Die EU müsse "über Mechanismen verfügen, um die Einhaltung ihrer Grundwerte wie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte sicherzustellen", teilte Edtstadler in einer Aussendung mit.

Michel Reimon, Europasprecher der Grünen im Nationalrat, thematisierte die Defizite bei der Medienvielfalt. Die türkis-blaue Regierung schneide kritische Medien teils gezielt von Informationen ab, so Reimon in einer Aussendung. Außerdem fordert er eine stärkere Förderung von Qualitätsmedien und nichtkommerziellem Rundfunk.

Neues Verfahren für Strafen beschlossen

Auf Vorschlag der deutschen Ratspräsidentschaft leiteten die 27 EU-Mitgliedsstaaten am Mittwoch auch ein neues Verfahren zur Bestrafung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit in die Wege. Dieses sieht unter anderem Kürzungen von EU-Finanzhilfen vor, wenn Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit "in hinreichend direkter Weise" Einfluss auf die Haushaltsführung und die finanziellen Interessen der Union haben.

Brisant ist der Mehrheitsbeschluss, weil Ungarn und Polen mit einer Blockade von wichtigen EU-Entscheidungen drohen, sollte der neue Rechtsstaatsmechanismus eingeführt werden. Dies könnte zum Beispiel dazu führen, dass das geplante Corona-Konjunkturprogramm nicht starten kann. Die ungarische Regierung hatte den Vorschlag am Dienstag als inakzeptabel bezeichnet.

Mechanismus geht anderen Staaten nicht weit genug

Eigentlich hatte die Kommission vorgeschlagen, Strafen schon dann zu ermöglichen, wenn ein Mangel an Rechtsstaatlichkeit die Grundvoraussetzungen für eine wirtschaftliche Budgetführung zu beeinträchtigen droht. Das hätte nach Auffassung der deutschen Ratspräsidentschaft allerdings gegen einen Beschluss des EU-Gipfels vom Juli verstoßen. Dort hatten die Staats- und Regierungschefs festgelegt, dass nur "im Fall von Verstößen" Sanktionen möglich sein sollen.

Aus den Reihen des Europaparlaments war die vorgesehene Aufweichung des Mechanismus zuletzt scharf kritisiert worden. Abgeordnete bezeichneten den Anfang der Woche vorgelegten Vorschlag unter anderem als Zeichen von "Feigheit und Prinzipienlosigkeit". Auch den Niederlanden, Finnland, Schweden, Dänemark und Belgien geht er nicht weit genug. Sie konnten ihn am Mittwoch aber im Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedsstaaten ebenso wenig blockieren wie Ungarn und Polen. (APA, red, 30.9.2020)