Vor kurzem habe ich eine Diplomarbeit zum Thema "Standardsprache und Dialekt an der Schule" gelesen. Darin wird die Einstellung der Österreicherinnen und Österreicher zur österreichischen Sprache als schizoid bezeichnet. Wie wahr!

Ich möchte hier gar nicht von österreichischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern anfangen, deren Werke im Inland lange Zeit von einem Gros der Rezipientinnen und Rezipienten als Nestbeschmutzung abgetan wurden. Obwohl auch dieses Echo auf den österreichischen Text viel über Sprachwahrnehmungen aussagt. Mir geht es viel mehr und wichtiger um die alltägliche Verwendung von Sprache(n) – auf der vielzitierten Straße, im Büro, im Supermarkt, im Kindergarten, ganz bedeutsam: in der Schule, aber auch vonseiten der Politik und, gar noch: innerhalb der Bildungspolitik. Was soll man da vom Umgang mit unseren Sprachen halten?

Warum deutscher und nicht österreichischer Standard?

Wenn – wie neulich bei mir zu Hause – eine Kärntner Gymnasiastin in Anbetracht eines bevorstehenden Deutschtests zum Thema Wortarten und Satzglieder verzweifelt seufzt: "Warum lernan wia in da Schul eigentlich Deitsch und nit Kärntnerisch? Des konn i wenigstns."

Wenn – wie in oben erwähnter Diplomarbeit deutlich ausgeführt – die österreichischen Lehrpläne seit Jahrzehnten bar sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse bleiben und der Plurizentrik des Deutschen nicht Rechnung tragen. Nach wie vor wird das Standarddeutsch von vielen Österreicherinnen und Österreichern als dominant und "irgendwie richtiger" empfunden, und das österreichische Schulsystem untermauert diese Wahrnehmung weiterhin, anstatt den österreichischen Standard aufzuwerten.

Oder wenn wissenschaftliche Erkenntnisse – hier zum Beispiel aus einer Studie des Jahres 2011 (!) – ignoriert werden: Denn laut dieser Studie der Uni Oldenburg machen Schülerinnen und Schüler, die einen Dialekt sprechen, 30 Prozent weniger Rechtschreibfehler als die, die nur "Hochdeutsch" können. Das wäre doch mal etwas zum Anknüpfen in Richtung Erhöhung der Textkompetenz, damit wir bei Pisa nicht immer so jämmerlich abschneiden, oder? Aber nein, das Dialekt-Standard-Kontinuum bleibt in der Schule unbehandelt und ungenutzt. Dass viele Österreicherinnen und Österreicher sich ihrem Dialekt emotional stark verbunden fühlen und ihn dabei gleichzeitig als inkorrekt empfinden, bleibt unaufgelöst. Und so werden sich wohl noch viele Schülerinnen und Schüler in der Volksschule fragen, warum das, was bis dato ihre Muttersprache gewesen ist, auf einmal im gleichlautenden Unterricht als falsch gilt.

Mehr Kompetenzen

Das Schizoide am Umgang mit unseren Sprachen bleibt freilich nicht beim Deutschen stehen. Prinzipiell werden die Vorteile von Mehrsprachigkeit – wie erhöhte Empathiefähigkeit, erhöhte Problemlösungskompetenz, höheres Abstraktionsvermögen, breiteres phonetisches Spektrum bis hin zu geringerem Demenzrisiko und schlichtweg auch mehr Wissen – vom Tisch gewischt, als könnten wir uns das bildungspolitisch und wirtschaftlich wirklich leisten. Dabei sind auch diese Vorteile längst (nicht nur wissenschaftlich) nachgewiesen.

Aber das ist ja die Wurzel des Übels der schizoiden Einstellungen zum Thema (österreichische) Sprache(n): mangelnde Kenntnisse und mangelnde Switchkompetenzen zu Standard, Dialekt, Register, Code, Jugendsprache, anderen Nationalsprachen et cetera. Dabei spielen all diese Varianten eine wichtige Rolle in Hinblick auf sprachliche Kompetenz.

Servus, seas oder Guten Tag – alle Sprachvarianten sind gleich wertvoll.
Foto: Getty Images/iStockphoto/Warchi

Vielfältige Sprache

"Das Deutsche" gibt es nicht, gab es nie. Immer schon waren da viele Dialekte, immer schon waren da Normierungen, Standardisierungen, immer schon war da sprachlicher Wandel, Vermischung – diverser Sprachen. In ganz konkreten Bereichen werden ganz konkrete Varianten des Deutschen oder anderer Sprachen verlangt. Dabei ist keine Variante für sich genommen "richtiger" als die andere. Es hängt jeweils vom Kontext ab.

Für das Bestehen im österreichischen Bildungssystem ist das Beherrschen der "Bildungssprache Deutsch" von entscheidender Bedeutung. Aber wie kann von Schülerinnen und Schülern verlangt werden, dass sie in dieser Hinsicht "abliefern", wenn sich weder Pädagagoginnen und Pädagogen im Elementarbereich noch Lehrerende in den Schulen, weder ihre Eltern konkret noch die Gesellschaft allgemein – und leider am wenigstens offenbar (Bildungs-)Politikerinnen und -Politiker – bewusst sind, wie vielfältig Sprache ist, wie sich eine Variante von der anderen unterscheidet, welche Variante in welchem Kontext zum Einsatz kommen soll und wie diese sogenannte Switchkompetenz erworben und weiter gefördert werden kann?

Solange hier nicht mehr Bewusstsein, Wissen und Kompetenz geschaffen wird, bleibt die Einstellung der Österreicherinnen und Österreicher zur österreichischen Sprache – vielleicht zu Sprache überhaupt – schizoid. (Jennifer Kresitschnig, 5.10.2020)

PS

Wenn wir uns mit all unseren Sprachen wohl- und sicher fühlen und fähig sein wollen, sie situationsadäquat und kompetent einzusetzen, dann brauchen wir Bewusstsein und Wissen im Sprach- und Sprachenkontinuum. Unter "Sprachkontinuum" verstehe ich das Dialekt-Standard-Kontinuum inklusive Plurizentrik, also alle Facetten "des Deutschen". Unter "Sprachenkontinuum" verstehe ich das Kontinuum mehrerer Einzelsprachen, also zum Beispiel zwischen Deutsch und Englisch.

Ein kleines Beispiel zur Veranschaulichung des Sprach(en)kontinuums: Kärntner Dialekt, Transkription in Annäherung: "Dazua follt mia ad hoc Folgendes ei: I bin gestan mit meina Tochta im Restoro wis-a-wi von da Dermatologie-Praxis gsessn. Sie hot mi gepränkt, wie se mia a Miem zeigt hot, auf dem a maskiertes Dirndl schafflt, des ausschaut wia sie. LOL."

Standard: "Dazu fällt mir ad hoc [Latein] folgende Begebenheit ein: Ich saß gestern mit meiner Tochter in dem Restaurant [Französisch] vis-à-vis [Französisch] der Dermatologie-Praxis [Griechisch]. Sie hat mich geprankt [Englisch, Jugendsprache: hereingelegt], als sie mir ein Meme [Englisch, Jugendsprache: Bilder, Videos et cetera, die sich wie Lauffeuer über das Internet verbreiten. Dabei handelt es sich in der Regel um aussagekräftige Motive, die mit einem Text kombiniert werden – und so neue Bedeutungen erhalten] zeigte, auf dem ein maskiertes [Französisch aus dem Arabischen] Mädchen shuffelt [Englisch, Jugendsprache: in einem bestimmten Tanzstil tanzen], das aussah wie sie. LOL [Englisch, Jugendsprache, Abkürzung für "laughing out loud" – lautes Lachen, Ausdruck der Belustigung]."