Sie sitzen auf dem Rasen, knabbern Nüsse und trinken Kaffee, und immer wieder erhebt sich da und dort jemand, um zu einem der Megafone zu greifen und so laut wie möglich denen da drinnen auszurichten, was man von ihnen hält. "Da drinnen" ist Parlamentssitzung, da draußen wird demonstriert. Hunderte Demonstranten sitzen Dienstagnachmittag vor dem israelischen Parlament, der Knesset, und protestieren gegen den Beschluss, der im Plenum gefällt werden soll: das De-facto-Verbot der Demonstrationen.

Seit Monaten setzt Regierungschef Benjamin Netanjahu alles daran, Demonstranten zu verunglimpfen: Sie seien gewaltbereite "Anarchisten", die vom Ausland Geld annehmen, um die vom israelischen Volk gewählte Regierung zu stürzen, erklärte er immer wieder. Im Laufe der Corona-Krise, in der sich immer mehr Frustrierte den wöchentlichen Anti-Netanjahu-Demonstrationen anschlossen und den beschaulichen Kleinprotest in einen Massenauflauf verwandelten, änderte Netanjahu seine Strategie. Jetzt waren die Demonstranten plötzlich gefährliche Virusschleudern. Wer Corona besiegen wolle, müsse den Protest verbieten, hieß es. Doch das Höchstgericht schob dem einen Riegel vor: zu wichtig sei das Recht auf freie Demonstration, um es der Seuchenbekämpfung zu opfern. So zählten die Demos im ersten Lockdown zu den wenigen Ausnahmen, die ein Brechen des Hausarrests erlaubten.

Lockdown

Vergangene Woche lieferten jedoch die explodierenden Infektionszahlen neuen Stoff für die Netanjahu'sche Antidemonstrationsrhetorik. Ganz Israel war in Angst vor dem höchsten jüdischen Feiertag Yom Kippur am vergangenen Montag. Die einen, weil sie in den ultraorthodoxen Betversammlungen neue Superspreader-Events sahen, und die anderen, weil sie befürchteten, dass die Regierung ihnen das Massengebet verbieten würde. Netanjahu griff zu einem Trick: Er stellte einen Total-Lockdown in Aussicht, um Sammelgebete zu unterbinden. Praktischer Nebeneffekt: Ein solcher Lockdown würde auch die Samstagsdemonstrationen vor Netanjahus Haus verunmöglichen.

Samstags wird gegen Netanjahu demonstriert.
Foto: EPA/Sultan

Die Zähmung des Protests per Gesetz war aus Sicht der Regierung schon gemachte Sache. Am Freitag, zeitgerecht vor Yom Kippur, sollte sie im Parlament besiegelt werden. Doch dann scheiterte das Verbot von Massengebet und Massenprotest ausgerechnet an einem religiösen Gebot. Wegen der Schabbatruhe darf ab Freitagnachmittag nicht mehr gearbeitet werden. Um rund 14 Uhr lassen daher alle ihre Bleistifte fallen – auch die Parlamentsabgeordneten. Das machte sich die Opposition zunutze. Ofer Cassif von der Vereinigten arabischen Liste verbrachte die Nacht auf Freitag am Schreibtisch, um Abänderungsanträge zu schreiben. In der Früh hatte er knapp 4.000 solcher Einsprüche gegen das Gesetz fertig, die vor allem einen Zweck hatten: den Beschluss des Demo-Verbots so lange hinauszuzögern, bis es schabbatbedingt zu spät für die Abstimmung ist.

Konvois

Tatsächlich scheiterte der Beschluss am Schabbatbeginn. Und am Samstag gingen, ganz legal, so viele Menschen wie nie auf die Straße – oder sie rollten. Um die soziale Distanz zu wahren, wurde ein Gutteil des Protests auf Autokonvois verlagert. Die Fahrzeugketten hatten zwei Zielpunkte: Netanjahus Residenz in Jerusalem und das Haus der Familie Netanjahu in der Küstenstadt Caesarea.

Am Dienstag, dem Tag nach Yom Kippur, trat das Parlament dann erneut zusammen, um das Demo-Verbot zu beschließen. Bis es zur Abstimmung kam, verstrich viel Zeit: Erst um 4.30 Uhr morgens war es so weit. Opposition und Koalitionsparteien lieferten sich in der Debatte heftige Wortgefechte.

Demos nur daheim

Das Verbot wurde mit 46 zu 38 Stimmen angenommen – zwei Vertreter der Regierungspartei Blau-Weiß stimmten dagegen. Künftig darf man an einer Demonstration nur dann teilnehmen, wenn sich diese im Umkreis von 1.000 Metern rund ums eigene Wohnhaus befindet. Das gilt auch für den Schauplatz der wöchentlichen Samstagsdemos, Netanjahus Residenz in Jerusalem. Da sich in 1.000 Metern Umkreis großteils Hotelbauten, Parks und Bürogebäude befinden, hält sich die Zahl der potentiellen Teilnehmer in natürlichen Grenzen. Zudem schreibt das neue Gesetz eine Höchstgrenze von 2.000 Demonstranten fest. Zum Vergleich: An den Samstagsdemos nehmen im Schnitt rund 15.000 Menschen teil.

In der Gesetzesnovelle wird de facto ein "besonderer Coronavirus-Notstand" verhängt, der das Protestverbot rechtfertige. Dieser Ausnahmezustand kann für maximal eineinhalb Monate verhängt werden. Kritiker sehen in der Einschränkung des Protestrechts jedoch einen gefährlichen Präzedenzfall. Netanjahu schiebe die Epidemie lediglich vor, um den Protest auch über die Covid-Krise hinaus verbieten zu können, glaubt Cassif, der die knapp 4.000 Anträge eingereicht hatte, um das Verbot hinauszuzögern. Und Yair Lapid, Chef der Oppositionspartei Yesh Atid, erklärte in einer Rede vorm Knesset-Plenum, er sei "gekommen, um zu schauen, ob ich heute überhaupt noch zum Plenum sprechen darf. Denn das wird der nächste Schritt sein."

Infektionsherd Thoraschule

Ein Blick in die Zahlen bestätigt Netanjahus These, dass die Demos wahre Virusschleudern seien, jedenfalls nicht. Laut epidemiologischen Untersuchungen ist die Zahl der Ansteckungen, die bei den Demos passierten, vernachlässigbar. Anders in den Synagogen und Thoraschulen: Obwohl die Ultraorthodoxen nur zwölf Prozent der israelischen Bevölkerung ausmachen, liegt ihr Anteil an den bestätigten Covid-19-Fällen laut aktuellen Daten des Gesundheitsministeriums bei 34 Prozent.

Wenige Stunden nach dem Beschluss des Demo-Verbots reichte eine NGO eine Beschwerde beim Höchstgericht ein: Das Gesetz sei grundrechtswidrig, heißt es darin. Nun hat die Regierung eine Woche lang Zeit, um zu belegen, dass der Protest die öffentliche Gesundheit gefährdet. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 30.9.2020)