Die Juristen Alfred J. Noll und Udo Szekulics sehen in ihrem Gastkommentar Österreichs Verfassungsrecht sehr kritisch. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Ewald Wiederin, Professor für öffentliches Recht an der Universität Wien.

Am 1. Oktober 1920 wurde das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) beschlossen. Sehen wir von der Unterbrechung seiner Geltung in den Jahren 1933 bis 1945 ab, so stellt das B-VG auch heute noch den Kern unseres Verfassungsrechts dar.

Die Ursprungsfassung unserer Verfassung war geprägt von nüchterner Konzentration aufs Wesentliche. Manches ließ man zunächst weg, weil man sich nicht einigen konnte (etwa die Kompetenzregeln zwischen Bund und Ländern), manches entlieh man der Monarchie (etwa die Grundrechte). Immerhin: Will man dieses Gesetzeswerk unter ästhetischen Gesichtspunkten ins Auge fassen, dann ist die präsidentielle Rede von der "Schönheit und Eleganz unserer Verfassung" nicht abwegig.

Hundert Jahre später loben die einen die "Schönheit und Eleganz" der Verfassung, andere sehen hingegen einen "Verfassungsrechtshaufen".
Foto: Hendrich

Tempora mutantur (die Zeiten ändern sich) und die Verfassung nicht minder. In den letzten hundert Jahren wurden dem B-VG viele andere Materien als Verfassungsgesetze (das heißt mit Zweidrittelmehrheit) beigefügt. Niemand vermag die vielen Dutzend Gesetze im Verfassungsrang zu überblicken – wir stehen vor einem unförmigen Korpus, der nicht nur durch die Masse der Bestimmungen, sondern mehr noch durch seine Strukturlosigkeit gekennzeichnet ist. Vor uns liegt ein unübersichtlicher Verfassungsrechtshaufen – und mit Blick darauf von "Schönheit und Eleganz" zu sprechen wäre ein realitätsleugnender Euphemismus. Die Sache ist häßlich und zudem überaus vertrackt – kein Wunder also, dass sich niemand dafür interessiert und dass wir ihren Inhalt allenfalls als eine Art Besinnungsgeläute in Sonntagsreden zu Gehör bekommen.

Besinnungsgeläute in Sonntagsreden

Gewiss werden dieser Tage die bleibenden Vorzüge des Bundes-Verfassungsgesetzes gebührend erwähnt werden – aber mit noch größerer Gewissheit dürfen wir davon ausgehen, dass dessen Defizite und Unzulänglichkeiten weitgehend unerwähnt bleiben werden. Aus eigener Erfahrung wollen wir hier zumindest auf einen Aspekt der defizitären Ausbalancierung der staatlichen Gewalten hinweisen:

Die Opposition musste lange darauf warten, bis ihr die Einsetzung eines U-Ausschusses als Minderheitenrecht zugestanden wurde (ab 2015). Man mag skeptisch sein, wie ertragreich die Arbeit dieser Ausschüsse ist, aber niemand zweifelt daran, dass es richtig war, dies als Minderheitenrecht festzuschreiben. Ein anderes Minderheitenrecht aber tritt man immer noch mit Füßen: Den Anfragen der Oppositionsparteien wird immer wieder konsequenzlos eine inhaltliche Antwort verweigert, obwohl das B-VG selbst dieses Kontrollrecht völlig klar umschreibt. Die dabei in Gebrauch stehenden Ausreden der Minister sind so viel- wie zugleich einfältig.

Ginge auch anders

Es wäre auch anders möglich: Im Deutschen Bundestag können die Abgeordneten das Bundesverfassungsgericht anrufen, wenn keine Antwort gegeben wird. Es wäre auch bei uns leicht möglich, Waffengleichheit zwischen der Regierung und der Opposition herzustellen, wenn man den Verfassungsgerichtshof als Schiedsrichter einführte.

Insgesamt gibt es hier viel Staatsrecht, das nur auf dem Papier steht, zum Beispiel: Das Wahlrecht entspricht nicht dem Gebot des B-VG, wonach der Nationalrat "nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt" werden muss: Selbst mit so viel Stimmen, wie es den Wahlberechtigten eines kleinen Bundeslandes entspricht, ist der Einzug in den Nationalrat wegen der Vier-Prozent-Sperrklausel in Österreich nicht gesichert (was den VfGH nicht stört); wir wissen darum, dass die Obergrenzen der Wahlkampffinanzierung mitunter nicht eingehalten werden, ohne dass dies gravierende Konsequenzen hätte; wir sehen, dass Regierungsmitglieder vor einem U-Ausschuss de facto die Aussage verweigern – und dass auch das keine Konsequenzen hat.

Kein Mittel

Es zeigt sich weiters, dass im Nationalrat die Mehrheit ihre Macht gnadenlos ausübt und völlig neue Themen und Inhalte mittels sogenannter Abänderungsanträge in letzter Minute einreicht und dann durchpeitscht; die Debatte zur zweiten Lesung, in der Geschäftsordnung ausdrücklich vorgesehen, wird unterschlagen, sobald der jeweilige Ausschuss eine negative Stellungnahme abgegeben hat. Die Abgeordneten der Opposition haben kein Mittel, um solche demokratiepolitisch höchst bedenklichen Vorgangsweisen zu verhindern.

Es gäbe dutzende weitere Themen, an denen ablesbar wäre, wie sehr sich die Praxis des österreichischen Verfassungsrechts allzu sehr an die machtfestigenden Üblichkeiten des parlamentarischen Betriebs ausliefert.

Das deutsche Grundgesetz folgt der sogenannten Konzentrationsmaxime: Alles Verfassungsrecht findet sich in einer Urkunde. Auch in der Schweiz ist die Verfassung in einem Dokument konzentriert, das um die Jahrtausendwende einer vollständigen Revision unterzogen wurde. Dazu wird es in Österreich nicht kommen. Denn der Akt der Verfassungsgebung bedürfte eines politischen Akteurs, der seinen politischen Willen in einer konzisen Verfassung kondensiert (daran scheitert auch jede Bundesstaatsreform). Es wird weiterhin beim unübersehbaren Verfassungsrechtshaufen in Österreich bleiben – aber immerhin einige Reformen sollten möglich sein, wenn man die entsprechende Zuversicht und Sachlichkeit aufbietet.

Es liegt uns auf der Zunge, Marquis de Sades Ausruf zu paraphrasieren: "Österreicher, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt!" – aber angesichts der Zustände im Land will uns das nur recht kleinlaut über die Lippen kommen. (Alfred J. Noll, Udo Szekulics, 1.10.2020)