Wie wurden aus ‚kinderfressenden Kannibalen‘ und ‚blutrünstigen Hunnen‘ die ‚Verteidiger des christlichen Abendlandes‘ und ‚heldenhafte Freiheitskämpfer‘ gegen Mongolen, Türken und Russen? Wer waren die ‚asiatischen Barbaren‘, die auf ihren Raubzügen von der Schweiz bis Frankreich, von Deutschland bis Italien Angst und Schrecken verbreitet hatten und doch als die Letzten der Völkerwellen aus Asien nicht in der Versenkung verschwunden sind?", fragt Paul Lendvai in der Einleitung seiner großen Monografie über Die Ungarn. Ungarn ist und war immer schon ein Land der Widersprüche, stellt Lendvai, Doyen des europäischen Journalismus, fest.

Paul Lendvai, "Die Ungarn. Eine tausendjährige Geschichte". € 28,– / 592 Seiten. Ecowin-Verlag, Salzburg 2020.
Foto: Ecowin-Verlag,

Vor exakt 30 Jahren – Ungarn erlebte mit dem Fall der Berliner Mauer, dem Ende des Eisernen Vorhangs, dem Zerfall des sogenannten Ostblocks unter der Ägide der UdSSR, dem Ende des Kalten Krieges gerade eine Aufbruchstimmung und einen Neubeginn – hatte Paul Lendvai erstmals eine Monografie über die "tausendjährige Geschichte" Ungarns verfasst. Nun erscheint dieses Standardwerk in aktualisierter Form. Damals war ein gewisser Victor Orbán erstmals genannt worden, am Ende des letzten Kapitels – als Redner einer denkwürdigen Trauerfeier für den 1958 hingerichteten Ministerpräsidenten Imre Nagy. Keineswegs absehbar war, welche Wendung Ungarns junge Demokratie unter seiner Führung Jahrzehnte später nehmen sollte.

Mythos und Märtyrertum

Paul Lendvai, STANDARD-Kolumnist, ORF-Ikone, international agierender und denkender Autor und Kommentator, der, 1928 in Budapest geboren, seit 1957 in Wien lebt, beschreibt das Land seiner Geburt im Spannungsfeld ethnischer Konstellationen, historischer Metamorphosen und politischer Umwälzungen.

Vom Stolz der Stephanskrone zu Unterdrückung und Abhängigkeit. Besonderes Augenmerk lenkt Lendvai, aufgrund der geopolitischen Lage im Herzen Europas und der gemeinsamen Vergangenheit, naturgemäß auf das Verhältnis Ungarns zu seinen Nachbarstaaten. Historische Kriege gegen das Osmanenreich, die Ausnahmeposition Siebenbürgens und der langanhaltende Freiheitskampf gegen Österreich und die Habsburger nehmen reichlich Raum ein. "Heldenepen" über Zrinyi, Thököly, Rákóczi, Széchenyi werden luzide hinterfragt und seziert in Richtung Mythos, Märtyrertum, Historiografie und Realität.

Lendvai beleuchtet die Situation der Magyaren in Bezug auf Traditionalismus, Modernisierung, Reformations(un)willen, Eigenstaatlichkeit und Unterwerfung. Wesentliche Zäsuren waren die Versöhnung Ungarns mit den Habsburgern unter Andrássy mit der Verbündeten Kaiserin Elisabeth sowie die Hochblüte der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn unter der Dynastie der Habsburger.

Mit dem Ende der Monarchie 1918 begann, wie für das Gros der Staaten in Europa, auch in Ungarn ein finsteres Kapitel der Geschichte; geprägt von Nationalismus, Xenophobie, sozialem, gesellschaftlichem und politischem Unfrieden.

Profunde Kenntnisse sachlicher Natur changieren in Paul Lendvais Erzählstil stets mit einer Melange an Anekdoten und sind vor allem auch immer beseelt von einem leidenschaftlichen Engagement für ein friedliches und geeintes Europa. (Gregor Auenhammer, 30.9.2020)