Ewald Wiederin, Professor für öffentliches Recht am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien, erklärt in seinem Gastkommentar die historische Bedeutung der Verfassung. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar der Juristen Alfred J. Noll und Udo Szekulics.

Heute wird das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) hundert Jahre alt. In der Stunde seiner Geburt, am 1. Oktober 1920, hätte das niemand erwartet, am allerwenigsten die Väter und Mütter der Verfassung selbst. Sie waren zwar erleichtert über das noch halbwegs glückliche Ende, aber alles andere als stolz auf ihr Kind. Exakt in der 100. Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung begann die Debatte: Ignaz Seipel – von der christlichsozialen Partei und späterer Kanzler – erläuterte als Berichterstatter die Mängel der Vorlage, der Vertreter der Regierung bat für sie um Verständnis, und die Hauptredner aller Parteien gingen zur neuen Verfassung auf Distanz. Am besten ist die allgemeine Stimmung durch einen Satz charakterisiert, den der großdeutsche Abgeordnete Heinrich Clessin als Ersatz für die zunächst geplante, aber wieder fallen gelassene Präambel vorschlug: Um Nachsicht wird gebeten!

Vor hundert Jahren, bei ihrer Geburt, war Österreichs Verfassung wenig geliebt und wild umstritten.
Foto: Hendrich

Die folgenden Jahre brachten nichts, was diese Grundstimmung erschüttert hätte. Die Bundesverfassung war von Anfang an wenig geliebt, wild umstritten; schon 1929 wurde sie einschneidend geändert, im Frühjahr 1933 systematisch gebrochen und ein Jahr später förmlich außer Kraft gesetzt. Alles sah danach aus, als bilde die Bundesverfassung von 1920 nur ein Intermezzo der österreichischen Verfassungsgeschichte, eine Episode wie andere auch.

Aber Verfassungen ist mitunter ein zweites Leben vergönnt, und in ihm schlug das, was in der Zwischenkriegszeit erst Skepsis, dann Ablehnung war, in Zustimmung um. Schon die vom Sozialdemokraten Karl Renner textierte Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 deklarierte, dass die wiedererstandene Republik "im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten" sei, und ihr allererstes Gesetz, erlassen und kundgemacht am 1. Mai 1945, ordnete das Wiederinkrafttreten des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Fassung von 1929 nach dem Stand vom 5. März 1933 an. Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs war also klargestellt, dass es bei der alten Verfassung bleiben sollte.

Neue Wertschätzung

Neue Wertschätzung war aber nicht der entscheidende Grund. Dieser Schritt ersparte eine Verfassungsdiskussion, die schwierig geworden wäre; er ersparte die Bewertung und Bewältigung von Nationalsozialismus und Ständestaat; er unterstrich die Kontinuität der österreichischen Existenz und stützte dadurch, was außenpolitisch gelegen kam, die These von der Okkupation Österreich durch das Deutsche Reich.

Auch nach 1945 sollte es dauern, bis das B-VG als Grundordnung der Republik geschätzt wurde. Staatsvertrag 1955 und Neutralitätsgesetz 1955 waren populärer und für die Identität Österreichs wichtiger. Große Koalitionen gossen tagespolitische Kompromisse in Verfassungsform, um sie für alle Zukunft abzusichern; und statt die Regeln des B-VG entweder einzuhalten oder abzuändern, durchlöcherten sie diese mit Ausnahmen. Das geschah durch Verfassungsbestimmungen außerhalb des B-VG, das je länger, desto mehr zur Rumpfverfassung verkam. Universitätsprofessor Hans Klecatsky verglich darum die Bundesverfassung mit einer Ruine und stieß damit auf große Resonanz. Die Verfassung galt als hässlich, überholt, abrissreif. Im Jahr 2003 wurde deshalb der Österreich-Konvent ins Leben gerufen, um eine zeitgemäßere, bessere, schönere Verfassung zu entwerfen.

Schönheit und Eleganz

2005 gab man den Neubau auf, weil sich in der Planung zeigte, dass er im Kern ähnlich ausgesehen hätte wie das B-VG. Die Energie floss in Renovierungsprojekte, die realistischer dimensioniert waren. 2008 wurde die Verfassungszersplitterung eingedämmt, 2012 die Verwaltungsgerichtsbarkeit auf neue Beine gestellt. So viel noch zu tun bleibt: Mit der Pflege der Verfassung stieg auch die Zufriedenheit mit ihr. Es brauchte freilich einen Bundespräsidenten, um in ihr Schönheit und Eleganz zu entdecken. Hat er recht, ist unsere Verfassung schön?

Beginnen wir zu lesen, in Art. 1: "Österreich ist eine demokratische Republik." Der Akzent liegt auf dem Hauptwort, der Republik; die Demokratie ist eine Beifügung, die wie selbstverständlich daherkommt. Der zweite Satz, von Hans Kelsen geschrieben, erläutert den ersten: "Ihr Recht geht vom Volk aus." Diesmal steht das Volk im Zentrum und das Recht an der Seite: Rechtsstaatlichkeit wird genauso wenig feierlich proklamiert wie zuvor die Demokratie. Die Pointe liegt freilich in dem, was fehlt, was üblicherweise in Verfassungen steht und wogegen der Satz sich wendet. Nicht alle Gewalt geht vom Volk aus, das Recht geht vom Volk aus. Das Volk herrscht zwar, aber durch das Recht und nicht mit Gewalt. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind so miteinander verklammert. Herrschaft ist legitim nur durch Recht, Recht ist legitim nur als Produkt demokratischer Verfahren.

Nüchtern und unterkühlt

Es ist dieser nüchtern, unterkühlte Ton, es ist die Kongruenz von Form und Inhalt, die die Schönheit unserer Verfassung ausmachen. Dazu kommen ihr Alter und ihre Bewährung in der Geschichte. Es ist kein Zufall, dass Alexander Van der Bellen die Schönheit der Verfassung und ihre Funktion als Kompass beschwor, als er eine ernste Regierungskrise zu meistern hatte. Seine Prophezeiung hat sich ein Stück weit selber erfüllt. Im Grunde ist jede Verfassung nur ein Blatt Papier, das aus sich heraus nichts zu bewirken vermag. Verfassungen leben von der Bereitschaft, nach ihren Regeln zu spielen, und wenn ihnen überdies noch Vertrauen entgegengebracht wird, dann bewähren sie sich auch, in aller Schönheit. (Ewald Wiederin, 1.10.2020)