Schon seit Jahren wagt es kaum jemand in Ägypten, gegen das autoritäre Regime von Präsident Abdelfattah al-Sisi demonstrieren zu gehen. Denn wer verhaftet wird, dem droht, dass er die eiserne Faust des für seine zügellose Gewalt und Willkür bekannten ägyptischen Sicherheitsapparats am eigenen Leib zu spüren bekommt.

Repressalien

Umso bemerkenswerter sind daher die vergangene Woche aus zahlreichen Provinzen gemeldeten Proteste gegen Al-Sisi, auf die das Regime mit Repressalien und einer wenig zimperlichen Verhaftungswelle reagierte. An sechs Tagen in Folge zogen in Dörfern, Kleinstädten und Außenbezirken von Kairo und Alexandria kleine Gruppen von Demonstranten durch die Straßen und skandierten regimekritische Parolen.

Bereits im September 2019 wurde in Kairo und anderen ägyptischen Städten gegen Präsident Al-Sisi demonstriert. Die Polizei war rasch zur Stelle.
Foto: AFP

Selbst bei lokalen Medien, Aktivisten und Menschenrechtlern herrschte jedoch tagelang Unklarheit darüber, was wirklich im Land passiert war, kursierten doch auch zahlreiche alte Videoaufnahmen von Protesten in sozialen Netzwerken. Wie groß die Demonstrationen tatsächlich waren und wie viele Menschen insgesamt verhaftet wurden, ist auch deshalb bis heute unklar. Präsident Al-Sisi und ein Regierungssprecher äußerten sich jedoch am Wochenende erstmals öffentlich zu den Protesten und räumten dabei ein, dass wirklich Demonstrationen stattgefunden hatten.

Keine offiziellen Angaben

Das Arabic Network for Human Rights Information (ANHRI) spricht in einer Stellungnahme vom Dienstag von fast 600 Menschen, die in Zusammenhang mit den Protesten verhaftet und der Staatsanwaltschaft vorgeführt worden seien. ANHRI, eine der wenigen noch vor Ort aktiven regierungskritischen Menschenrechtsgruppen, geht allerdings davon aus, dass noch zahlreiche weitere Verhaftungen bestätigt werden könnten. Offizielle Angaben zu Verhaftungen gibt es bisher nicht.

Laut ANHRI, der unabhängigen ägyptischen Internetzeitung Mada Masr und Anwälten müssen sich die meisten Festgenommenen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Veröffentlichung und Verbreitung von Falschnachrichten, Missbrauchs sozialer Medien oder auch wegen Verstößen gegen das im Jahr 2013 erlassene drakonische Protestgesetz verantworten.

Als Auslöser der Protestwelle gelten in sozialen Netzwerken veröffentlichte Videos des Bauunternehmers Mohamed Ali, der in diesen die Bevölkerung dazu aufrief, gegen das Regime auf die Straße zu gehen. Der im spanischen Exil lebende Ali hatte bereits vor einem Jahr für Schlagzeilen in Ägypten gesorgt, nachdem er eine Reihe von Videos ins Netz gestellt hatte, in denen er Al-Sisi und der Armeeführung Korruption und die Verschwendung öffentlicher Gelder vorwarf.

Verhaftungswelle

Nachdem am 20. September 2019 tatsächlich einige hundert Menschen Alis Protestaufrufen gefolgt waren, reagierte der Sicherheitsapparat mit einer erbitterten Verhaftungswelle. Innerhalb weniger Wochen wurden damals mehr als 4000 Menschen festgenommen und teilweise vor Gericht gezerrt, inklusive einiger bekannter Menschenrechtler oder Aktivisten, die weder mit Ali noch mit den Protesten etwas zu tun hatten.

Die aus Alexandria stammende linke Menschenrechtsanwältin Mahienour al-Masry, der Anwalt Mohamed al-Baqer, die Frauenrechtlerin Esraa Abdel Fattah und zahlreiche andere, auch international bekannte Aktivisten sitzen seither hinter Gittern. In Oppositions- und Aktivistenkreisen waren Alis "Enthüllungen" und vor allem die Protestaufrufe jedoch sehr verhalten aufgenommen worden. Schließlich hatte der selbsternannte Whistleblower selbst jahrelang mit Ägyptens Armee Geschäfte gemacht, war aber offenbar bei den Herrschenden in Kairo in Ungnade gefallen.

Staatliche Abrissaktion

Sowohl im Jahr 2019 als auch vergangene Woche fielen seine Protestaufrufe jedoch auf fruchtbaren Boden, haben weite Teile von Ägyptens Bevölkerung doch angesichts der heftigen Austeritätspolitik der vergangenen Jahre und der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie nur wenig zu verlieren. Eine großangelegte staatliche Abrissaktion gegen informell errichtete Wohnhäuser hatte erst Anfang September für Unruhe und Proteste im Land gesorgt, verloren doch über Nacht tausende Menschen ihr Dach über dem Kopf. (Philip Sofian Naceur aus Kairo, 30.9.2020)