Premierminister Viktor Orbán fordert ultimativ den Rücktritt der für Rechtsstaatlichkeit und Justiz zuständigen Vizepräsidentin der EU-Kommission, Věra Jourová. Die Regierungen von Ungarn und Polen drohen damit, den erst Ende Juli mit ihrer Zustimmung beschlossenen Corona-Wiederaufbaufonds zu boykottieren, wenn die Vergabe von EU-Geldern durch die Kommission an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit geknüpft wird.

Damit hatten die beiden "Problembären" der Union vor dem EU-Sondergipfel der 27 Staats- und Regierungschefs der Union, der am Donnerstagnachmittag beginnt, seit Tagen für Schlagzeilen gesorgt.

Im Vorfeld des Treffens mussten sie am Mittwoch dennoch gleich zwei schwere Niederlagen hinnehmen. Zunächst einigten sich die 25 Partnerstaaten im Ausschuss der Ständigen Vertreter in Brüssel mit Mehrheit auf das Mandat zur Verhandlung eben dieses Rechtsstaatlichkeitsmechanismus mit dem Europäischen Parlament (EP). Diese Machtdemonstration zeigte, dass es für Budapest und Warschau eben nicht ganz so einfach ist, dieses neue Instrument zur Disziplinierung von Grundrechtsverletzern zu stoppen.

EU-Ratspräsident Charles Michel verlässt nach Corona-Verdacht die Quarantäne und lädt zum EU-Sondergipfel zu Krisen rundum.
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Zur Erinnerung: Der Wiederaufbaufonds ist untrennbar mit dem regulären langfristigen EU-Budgetrahmen, insgesamt 1850 Milliarden Euro bis 2027, verknüpft. Ohne Zustimmung der EU-Parlamentarier geht gar nichts. Das EP verlangt sogar eine wesentlich striktere Regelung, als die deutsche EU-Ratspräsidentschaft zuletzt als Kompromiss angeboten hat. Demnach könnte die Kommission EU-Subventionen kürzen, wenn die Rechtsstaatlichkeit in einem Land "in hinreichend direkter Weise eingeschränkt" wird.

Nun könnten Ungarn und Polen am Ende der Verhandlungen ein Veto einlegen, mit der Rechtsstaatlichkeitsregelung aber das EU-Budget zum Platzen bringen. Da sie, bezogen auf ihre Landesgröße, zu den größten Empfängern und Profiteuren von EU-Geldern gehören, würden sie sich allerdings ins eigene Knie schießen. Das gilt insbesondere für Orbán und Ungarn, das mehr als vier Prozent seiner Wirtschaftskraft mit EU-Subventionen schafft.

Medienfreiheit unter Druck

Gegen den ungarischen Premier in erster Linie zielte der auf Mittwoch vorgezogene Bericht zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in allen 27 EU-Ländern, der unter Jourovás Ägide entstand, wobei sie die volle Rückendeckung von Präsidentin Ursula von der Leyen bekam. Für die Prüfer steht nach ihrem "Stresstest" fest, dass es "in einigen Mitgliedsstaaten" Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit gibt, die "Risken für demokratische Standards" sind. Ganz oben auf der Liste stehen Ungarn und Polen, aber auch Rumänien, Bulgarien und die Slowakei – Letztere vor allem im Bereich der mangelnden Bekämpfung der Korruption.

Nach Kritik hat Rumäniens Präsident Klaus Johannis die Änderung einer umstrittenen Justizreform angekündigt.

Bezüglich Polen zeigt sich die Kommission wegen der Justizreformen seit 2015 besorgt, die die Unabhängigkeit der Gerichte untergraben, weswegen es bereits mehrere Verfahren gegeben hat. In Ungarn weise der Rechtsstaat "erhebliche Mängel" auf, die Vielfalt der Medien sei einem beträchtlichen Risiko ausgesetzt, sie würden von der Regierung "systematisch behindert und eingeschüchtert". Jourová hielt Orbán vor, den Weg zu einer "kranken Demokratie" zu bereiten.

Untersuchung im Fall Nawalny

Direkte Folgen daraus werden beim EU-Gipfel nicht erwartet. Die Brexitverhandlungen sollen kurz besprochen, aber so wie die neuen Vorschläge der Kommission zur Migrationsreform erst beim nächsten EU-Gipfel Mitte Oktober behandelt werden. Das Treffen dürfte diesmal ganz im Zeichen der Außenpolitik und der Krisen in der Nachbarschaft stehen, voran Russland, konkret wegen des Mordanschlags auf den Oppositionellen Alexander Nawalny. Die EU-27 stellen den Vergiftungsversuch offiziell fest und fordern Präsident Wladimir Putin auf, sich an einer internationalen Untersuchung zu beteiligen.

Beim Abendessen soll über die Türkei gesprochen werden, die mit Zypern und Griechenland im Dauerkonflikt ist. Es soll keine Sanktionen gegen Ankara, aber Versuche zu einer Entschärfung der Beziehungen geben. Der Gipfel dürfte Sanktionen gegen das Regime des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko beschließen, nicht aber gegen ihn persönlich. Zudem wird die Zukunft der Handelsbeziehungen mit China erörtert. (Thomas Mayer, 1.10.2020)