Es gibt zwei Realitäten in Wien. Die eine lässt sich derzeit gut im Sonnwendviertel beobachten: Mitten in der Stadt, unweit vom Hauptbahnhof, ist in wenigen Jahren ein schicker Stadtteil entstanden. Errichtet wurden aber nicht nur Apartmentkomplexe für Gutbetuchte, sondern auch eine grüne Infrastruktur für Stadtbewohner. Einen großen Park gibt es, Radwege, einen von Sportwissenschaftern gestalteten Spielplatz mit ausgefallenen Klettergeräten, den Motorikpark, der bei Eltern bis über die Stadtgrenze beliebt ist. Die zweite Realität ist schwerer fassbar, wenn man selbst nicht betroffen ist.

Sie wird zum Beispiel sichtbar vor den AMS-Büros in Wien, wenn Arbeitslose früh kommen, um unter den Ersten zu sein – und auf der Straße warten. 170.000 Menschen sind in der Hauptstadt beim AMS als arbeitslos gemeldet. Sehr viele davon sind Langzeitarbeitslose.

Extremer Wohlstand nicht nur für wenige, ein familienfreundliches und soziales Umfeld. Zugleich aber schwere wirtschaftliche Verwerfungen, weil ein Teil der Menschen nicht mitkommt. Wo genau Wien zwischen diesen beiden Extremen steht, darüber tobt im laufenden Wahlkampf eine Debatte. ÖVP-Spitzenkandidat Gernot Blümel bezeichnete Wien als "Bremsklotz". Dagegen spricht die SPÖ von Wien als der lebenswertesten Stadt der Welt.

Einkommen, Jobs, Wachstum: Wie sieht es aus?

Wer recht hat, lässt sich auch deshalb nicht leicht sagen, weil dutzende Indikatoren berücksichtigt gehörten. Gut eingrenzen lässt sich die Debatte wirtschaftlich bei drei Elementen: Arbeitsmarkt, Einkommen, Wirtschaftsleistung.

Ohne Zweifel steht Wien in einem Vergleich mit anderen Bundesländern heute schlechter da als vor zehn oder 15 Jahren. Noch 1988 war die Arbeitslosigkeit in der Hauptstadt niedriger als im Österreich-Schnitt. Das hat sich komplett gedreht. Wien hat die mit Abstand höchste Arbeitslosenquote aller Bundesländer, sie liegt bei knapp zwölf Prozent. Das ist mehr als doppelt so hoch wie in Oberösterreich.

Fix ist: Wiens Bevölkerung ist schnell gewachsen. Von 280 Metropolregionen in Europa war der Bevölkerungszuwachs über die vergangenen Jahre nur in 18 noch schneller.
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Bei Einkommen ist die Entwicklung ähnlich dramatisch. Im Jahr 2000 war laut Statistik Austria das Pro-Kopf-Einkommen in der Hauptstadt mit 17.700 Euro höher als die durchschnittlichen Einkommen in den übrigen Bundesländern. 2018, dem jüngsten Jahr, aus dem Zahlen vorliegen, liegt Wien beim Pro-Kopf-Einkommen auf dem letzten Platz. Und: Die Haushaltseinkommen sind zwar absolut gestiegen – vergleicht man sie aber mit der Inflationsentwicklung, dann waren sie rückläufig. Ähnlich ist es bei der Wirtschaftsleistung: Wien ist zwar absolut und mit Abstand das wirtschaftlich bedeutendste Bundesland. Die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung stagniert aber schon seit 2000, in diesem Ranking wurde die Hauptstadt sogar von Salzburg überholt.

Aber wer Statistiken richtig deuten will, muss wissen, dass es relative Veränderungen gibt, das aber nicht bedeuten muss, dass es absolut schlechter wird. Und hier ist die Entwicklung in Wien interessant: Bei genauem Hinsehen ist es mit dem Absturz nämlich komplizierter. Die Stadt ist über die vergangenen Jahrzehnte extrem gewachsen. Allein seit 2010 um mehr als 200.000 Einwohner. 40 Prozent des österreichweiten Bevölkerungswachstums in dieser Zeit spielten sich in Wien ab.

Was Statistiken (nicht) sagen

Ein großer Teil dieses Wachstums entfällt auf Zuwanderer aus Ungarn, Rumänien, Deutschland, Syrien. All diese Menschen suchen ihre Chancen in Wien. Nicht alle, aber viele aus dieser Gruppe tun sich schwerer am Arbeitsmarkt: Die Zahl der Jobs ist gestiegen, aber nicht so schnell wie notwendig. Der Wifo-Regionalökonom Peter Mayrhuber nennt das Phänomen "Wachstumsschmerzen". Das erklärt zu einem großen Teil die höhere Arbeitslosigkeit. Wenn Einkommen pro Kopf gemessen werden, aber nicht alle Arbeit finden, schlägt sich der Zuzug auch in dieser Statistik nieder. Aber: Weil jemand neu in die Stadt zieht und mit Schwierigkeiten kämpft, heißt das nicht, dass jemand anderer ärmer wird.

Wien hat sich zudem verjüngt: Während die Stadt vor dem Bevölkerungsboom das älteste Bundesland war, ist es heute das jüngste, sagt Lukas Sustala, der die Neos-Bildungsakademie leitet. Vor allem die Zahl der 20- bis 35-Jährigen nahm zu. In Österreich steigen die Lohnkurven im Alter steil , sagt Sustala. Sprich: Auch die Verjüngung dämpft die Einkommen.

Für die maue Entwicklung bei Jobs, Wachstum und Einkommen gibt es aber mehr Gründe. Es gibt auch einen Mismatch, das Angebot am Arbeitsmarkt ist nicht ideal: Die Zahl der Menschen mit Uni-Abschluss in der Stadt nahm zwar zu – Der Anteil des Mittelbaus, also der Menschen mit Lehrabschluss, ist aber im Österreich-Vergleich gering.

Und in keinem Bundesland gibt es so viele Menschen, die lediglich einen Pflichtschulabschluss haben, wie in Wien. In dieser Gruppe liegt die Arbeitslosenquote bei über 30 Prozent, bei Menschen mit Lehrabschluss sind es um die acht Prozent. Neben dem Mismatch gibt es einen Strukturwandel, der die Stadt trifft. Während die Rolle der Industrie zurückgegangen ist, nimmt jene des Dienstleistungssektors zu. Der Anteil gut bezahlter Jobs in der Produktion ist kleiner geworden, dafür gibt, es überspitzt gesagt, mehr Stellen für IT-Experten und bei McDonald's.

Auch das dämpft die Einkommen wohl insgesamt. Und: Das Wachstum war in den vergangenen Jahren in der Industrie dynamischer als im Handel, sagt Kerstin Gruber von der Statistik Austria. Wien konnte also weniger profitieren als Industriebundesländer wie Oberösterreich oder die Steiermark.

Wie sich die Stadt verändert

Starkes Bevölkerungswachstum, ein mehrfacher Strukturwandel, Probleme bei der Qualifizierung: All das trägt zur Entwicklung bei.

Wobei manch eine Entwicklung langfristig vorteilhaft ist. Die Verjüngung bedeutet, dass Wien eine der wenigen Regionen im Land ist, in denen die Zahl der Menschen in erwerbsfähigem Alter nicht schrumpfen wird, so Ökonom Mayrhuber.

Und: Während Wien in einigen Statistiken schwächelt, steht es in anderen gut da. Der Arbeitsmarkt ist auch im Inland ein Magnet. Ein Viertel der Niederösterreicher und Burgenländer arbeitet in Wien, die Niederösterreicher erwirtschaften ein Drittel ihres Einkommens in Wien. Die Stundenproduktivität ist höher als im Österreich-Schnitt. Das ist das Angenehme an der Debatte für Wahlkämpfer: Jeder Standpunkt lässt sich mit Zahlen untermauern. (András Szigetvari, 30.9.2020)