Hüter über das Recht: Zuletzt waren Verfassungsgerichtshofpräsident Christoph Grabenwarter (rechts)und Vizepräsidentin Verena Madner (links) viel mit schlampigen Corona-Gesetzen beschäftigt.

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Es war ein Fauxpas, wie er dem auf Selbstkontrolle fixierten Kanzler selten passiert. Ob die Corona-Regeln denn die Verfassung verletzen könnten? Bis die Höchstrichter all die Gesetze und Verordnungen überprüft hätten, antwortete Sebastian Kurz (ÖVP) in einem unbedachten Moment, seien diese ohnehin längst wieder außer Kraft.

Entfleucht ist Kurz dieser Ausspruch just in einem Jubiläumsjahr. Am 1. Oktober ist es 100 Jahre her, dass die damalige konstituierende Nationalversammlung der Ersten Republik das Bundesverfassungsgesetz beschloss. An salbungsvollen Bekenntnissen wird es zur Feier nicht mangeln – doch halten die Regenten von heute das politische Erbe tatsächlich in Ehren?

Die Jahre unter ÖVP-Führung, ob mit blauem oder grünem Partner, nähren Zweifel. Zentrale Vorhaben hatten sich als rechtswidrig entpuppt. Der Verfassungsgerichtshof hob Kernstücke der Sozialhilfereform und des Sicherheitspakets ebenso auf wie die Ausgangsbeschränkungen in der Corona-Krise und die ungleiche Lockerung des Lockdowns für den Handel.

Negative Spitze unter Schüssel

"Die Regierenden zeigen ihre Distanz zum rechtsstaatlichen Denken unverblümter als früher", sagt der Verfassungsjurist Heinz Mayer: "Kurz hat eine Respektlosigkeit brutal ausgesprochen." Doch das bedeute nicht, dass Kanzler und Co tatsächlich auch ungenierter handelten als ihre Vorgänger, schickt der Experte nach. Seit jeher kommen Regierungen mit der Verfassung über Kreuz, nur konnten sich große Koalitionen mehr oder minder elegant aus der Affäre ziehen: Als SPÖ und ÖVP Zweidrittelmehrheiten stellten, hievten sie strittige Gesetze in den Verfassungsrang und umgingen so die Kontrolle der Höchstrichter.

Die meisten Verstöße fallen folglich in Jahre, als es diese Mehrheit nicht gab: Negativer Spitzenreiter ist laut Analyse der Rechercheplattform Addendum die erste schwarz-blaue Regierung unter Wolfgang Schüssel, als der VfGH in drei Jahren 73 Gesetze und Bestimmungen aufhob. Werner Faymanns erste rot-schwarze Regierung schaffte in fünf Jahren die gleiche Zahl.

"Man muss die Aufhebungen in Relation sehen", wirft der Verfassungsrechtler Peter Bußjäger ein. Die Prüfungsmaschinerie des VfGH sei mit der Gesetzesflut in den 70er- und 80er-Jahren erst so richtig in Gang gekommen. Dadurch, dass viel mehr Gesetze beschlossen wurden, gab es auch mehr Gelegenheiten, welche aufzuheben. "Aber auch der VfGH hat sich verändert und ist gegenüber dem Gesetzgeber strenger und dynamischer geworden", sagt Bußjäger. Letzteres zeigt sich etwa daran, dass das Höchstgericht 2017 die "Ehe für alle" ermöglichte, während oder weil die damalige rot-schwarze Regierung mangels Einigkeit untätig blieb.

Überdies kommt es auch auf die politischen Motive an. Nicht immer ließen es Regierungen – wie Türkis-Blau bei den Sozialhilfekürzungen speziell für Ausländer – bewusst darauf ankommen, für ein politisches Signal am VfGH zu scheitern, relativiert Mayer: In vielen Fällen handle es sich um "juristische Gratwanderungen", die nach Auslegung so oder so ausgehen können. Und manchmal, wie bei den Corona-Regeln, sei die Ursache einfach Schlamperei und legistisches Unvermögen. Ein gewisses "Ausprobieren" gehöre bei Gesetzen dazu, sagt auch Bußjäger. Solange es mit Augenmaß passiert.

Ruf nach schnellen Prüfungen

Der Anwalt und Rechtsprofessor Georg Eisenberger sieht in der Praxis türkis-geführter Koalitionen kein Novum, ein Ärgernis benennt er trotzdem. Kurz’ Aussage störe deshalb so, weil die Regierung zwar das Problem kenne, aber nichts zur Lösung unternehme. Es sei überfällig, nach dem Vorbild Deutschlands in heiklen Fragen wie den Corona-Regeln Schnellüberprüfungen am VfGH einzuführen: So ließe sich die Gefahr der Willkür bannen.

Manfred Matzka geht Kurz' Satz ebenfalls nicht aus dem Kopf. Der ehemalige Spitzenbeamte und Berater von Kanzlerin Brigitte Bierlein sieht dahinter sehr wohl eine neue Qualität des Durchgriffs: Statt auf Basis von Gesetzen werde vermehrt mit Verordnungen regiert, VfGH-Einsprüche würden bewusst in Kauf genommen. Doch gegenseitiges Vertrauen sei in einem Staat ein hohes Gut, warnt Matzka: Nimmt es eine Regierung mit der Verfassung nicht so genau, "riskiert sie, dass auch die Bürger Regeln nicht mehr befolgen". (Gerald John, Jan Michael Marchart, 1.10.2020)