Mörderisch: Sofia Vinnik (als Asteria) und Rafał Tomkiewicz (als Tamerlano) in der Kammeroper.

Foto: Herwig Prammer

Wer in zwei Stunden noch mehr heftige XXL-Gefühle erleben möchte als in einer Folge Sommerhaus der Stars oder Promis unter Palmen, der sollte sich mal eine Barockoper geben. In der Kammeroper wird eine gespielt: Bajazet vom großen Antonio Vivaldi. Statt Bastian Yotta oder Désirée Nick kann man den turko-mongolischen Eroberer Tamerlano, den von ihm besiegten Sultan Bajazet und dessen Tochter Asteria beim rasanten Rauf und Runter in der Gefühlsachterbahn erleben: Liebe, Hass, Hysterie, Verzweiflung im Schnelldurchlauf. Das große Programm.

Prinz ohne Pluderhosen

Warum? Tamerlano hat sich in Asteria verknallt und seine Verlobte Irene an den griechischen Prinzen Andronico weitergereicht, der aber Asteria liebt. Deren Papa tobt natürlich: Zuerst wird der großmächtige Sultan Bajazet von diesem "Hirten" aus der Mongolei militärisch gedemütigt und gefangengenommen, und dann macht der sich auch noch an seine Tochter ran ...

Turbane, Pluderhosen und wallende Gewänder sind in der Kammeroper aber nicht angesagt, Krystian Lada hat die Handlung von der Türkei des frühen 15. Jahrhunderts in die Gegenwart verlegt. Statt in malerischen barocken Kulissenlandschaften finden die emotionalen Battles in einem Aufnahmestudio für ein Hörspiel statt (Bühne: Didzis Jaunzems); Natalia Kitamikado hat für einige Damen textile Eleganz in Crème rausgesucht.

Ein Händchen fürs Entertainment

Gibt es eigentlich einen sterileren Ort als ein Aufnahmestudio? Außer einem OP wohl nicht viele. Doch Lada hat glücklicherweise ein Händchen fürs Entertainment und kreiert für Vivaldis Pasticcio-Oper eine Bühnenwelt, die zwischen Klamauk, Groteske und "CSI Fleischmarkt" oszilliert. Tamerlano (Rafał Tomkiewicz) inszeniert die Regie als Zwitter aus pummeligem Dodl und geilem Sack, als Nero-Nerd mit debilem Austin-Powers-Grinsen.

Bajazet (Kristján Jóhannesson) ist hauptsächlich damit beschäftigt, in kraftvollen Tönen seinem Schicksal zu zürnen, Asteria (Sofia Vinnik) klagt in gewinnender Weise und versucht so hartnäckig wie erfolglos, Tamerlano zu töten. Enorm durchschlagskräftig leidet auch Valentina Petraeva (als Irene) unter der Gesamtsituation, wohingegen Andrew Morstein (als Andronico) stimmtechnisch noch auf der Suche ist. Betörend die samtweiche Schlichtheit des Soprans von Miriam Kutrowatz (als Idaspe): Grosso modo eine gewinnende Leistung des Jungen Ensembles des Theater an der Wien.

Schlichtweg traumhaft ist es, was Roger Díaz-Cajamarca und dem Bach Consort Wien bei der Interpretation der Arien von Vivaldi und denen seiner Konkurrenten aus der Neapolitanischen Opernschule gelingt. Hornissengeschwaderangriffe, Watschen, frische Windstöße, sanft aufsteigender Klangdunst: Dies alles und mehr hat der Orchestergraben klangtechnisch im Angebot. Applaus! (Stefan Ender, 2.10.2020)