Gastgeber des Gipfels ist EU-Ratspräsident Charles Michel – doch für Aufsehen sorgte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit ihrer harten Ansage Richtung London.

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Es war nur eine kurze mündliche Erklärung von eineinhalb Minuten, die Ursula von der Leyen abgab. Aber was die Präsidentin der EU-Kommission da am Donnerstag kurz vor Mittag mitteilte, war doch überraschend – nur wenige Stunden vor dem Beginn des EU-Sondergipfels der 27 Staats- und Regierungschefs, die von Ratspräsident Charles Michel zu einem zwei Tage dauernden Treffen nach Brüssel beordert worden waren.

Die Kommission leite unverzüglich rechtliche Schritte gegen Großbritannien ein, sagte von der Leyen. Anlass: Die Regierung in London habe mit der Verabschiedung eines Binnenmarktgesetzes, Dienstag im Parlament gebilligt, den rechtsgültigen EU-Austrittsvertrag verletzt. Nach Lesart der Experten in der EU-Zentralbehörde versuche Premierminister Boris Johnson damit, wesentliche Teile der Vereinbarungen von 2019 auszuhebeln. Es werde gegen das Nordirlandprotokoll und das Prinzip des "guten Glaubens" bei Vertragsabschlüssen verstoßen.

Nordirland soll weiterhin Zugang zum EU-Binnenmarkt haben, was London wieder infrage stellt. Zur Erinnerung: Das Königreich ist per 1. Februar aus der EU ausgetreten, bis Jahresende laufen die alten EU-Regeln in einer Übergangsregelung weiter. Die Verhandlungen über ein neues Freihandelsabkommen sind völlig verfahren, weil Johnson ständig damit droht, dass er ein Auslaufen der Brexit-Vereinbarungen notfalls bevorzugen würde – also den harten Schnitt, ab dem sein Land zu einem einfachen Drittland nach WTO-Regeln abrutschen würde.

Eskalation mit London

Ein Rechtsstreit vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), den London ohnehin nicht länger anerkennen will, würde die Beziehungen deutlich verschlechtern. Wie es so je zu einem freundschaftlichen neuen Abschluss kommen soll, steht in den Sternen. Weil das heikel ist, wollte Ratspräsident Michel das Thema Brexit beim Gipfel eigentlich nur "klein spielen". Erst beim nächsten Treffen Ende Oktober sollte dazu beraten werden.

Von der Leyens Vorstoß konterkarierte diese Absicht. Er zeigt aber auch das Dilemma auf, in dem sich die Europäische Union auch in einer Reihe von vielen anderen Konflikten befindet, um die es beim Gipfel gehen sollte. Ganz oben auf der Liste ist dabei die Lage in Belarus. Die 27 EU-Regierungschefs haben Ende August beschlossen, gegen das Regime von Präsident Alexander Lukaschenko Sanktionen durchführen zu wollen: Einreisesperren, das Einfrieren von Konten, Verfahren gegen jene, die für Gewaltakte gegen Demonstranten verantwortlich sind.

Weil aber Zypern (aus Protest dagegen, dass die EU-Partner gegen die Türkei im Streit um Erdgasgewinnung im Mittelmeer keine Sanktionen erwägen) sich bisher querlegt, hingen die Zwangsmaßnahmen gegen Belarus in der Luft. Beim Treffen bis Freitag will man das nun auch formell umsetzen, wobei es gegen Lukaschenko persönlich laut Diplomaten keine Sanktionen geben dürfte (siehe Bericht unten).

Merkels Härte bei Putin

Außenpolitisch und global Handlungsfähigkeit zu zeigen, die Samthandschuhe zumindest rhetorisch abzulegen, das ist vor allem der derzeitigen EU-Ratsvorsitzenden, der deutschen Kanzlerin Angela Merkel wichtig, heißt es. Sie ist es auch, die eine härtere Sprache gegenüber Russland und Präsident Wladimir Putin befürwortet, was die Verurteilung des Giftgasanschlags auf den Oppositionellen Alexander Nawalny angeht (siehe unten). Allerdings: Die Schlusserklärungen sehen eine eindeutige Feststellung vor, dass der Tötungsversuch gegen Nawalny stattgefunden hat. Russland wird aufgefordert, sich an einer internationalen Untersuchung zu beteiligen. Die "Tür zum Dialog" soll aber offen bleiben.

Das braucht die EU auch, die im jüngsten Krieg in Bergkarabach alle Seiten zum Frieden aufruft. Hier ist Putin aufseiten der Union. Hingegen spielt die Türkei eine problematische Rolle, die in Kriegshandlungen mit syrischen Söldnern direkt eingegriffen haben soll. Der Umgang mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan wird beim Abendessen des EU-Gipfels ausführlich erörtert werden. Sanktionen gegen Ankara sind aber nicht vorgesehen, weil sich der Streit im Mittelmeer mit Griechenland und Zypern wieder etwas entspannt habe. Merkel will den EU-Türkei-Pakt zur Migration nicht gefährden. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz sieht das anders und pocht auf Sanktionen gegen die Türkei. (Thomas Mayer aus Brüssel, 1.10.2020)