Allianz der Vietnamkriegsgegner: Sacha Baron Cohen in einer Paraderolle als Anarcho-Aktivist Abbie Hoffman.

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Die Demonstranten, ein bunter Haufen aus Hippies, Studenten und Aktivisten der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, wiederholen immer wieder denselben Slogan: "The whole world is watching" – "Die ganze Welt sieht zu". Im Jahr 1968, die Anti-Vietnam-Bewegung steuert auf ihren Höhepunkt zu, erhält dieser Satz besondere Resonanz, denn Sichtbarkeit verstärkt die politische Agenda.

Bei der Democratic Convention in Chicago kam es schließlich zu massiven Ausschreitungen zwischen den Demonstranten und der Polizei. Haskell Wexler hat darüber einen der wohl wichtigsten US-Filme der 1960er-Jahre gedreht: Medium Cool mit Robert Forster als Kameramann, der mitten im Chaos weiterdreht. Ein semidokumentarischer Film, der die Rolle der Medien in der Wirklichkeitskonstruktion in den Vordergrund rückt.

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Aaron Sorkins Netflix-Produktion The Trial of the Chicago 7 beschäftigt sich jetzt nuancenreich mit dem Nachspiel dieser Zusammenstöße. John Mitchell, der neue Generalstaatsanwalt des frisch gewählten Präsidenten Richard Nixon, wird beauftragt, ein Exempel zu setzen und die an sich heterogene Gruppe aus Studentenführern und wichtigen Aktivisten als Verschwörer vor Gericht zu stellen. Ein aufstrebender Staatsanwalt (Joseph Gordon-Levitt) soll die Sache durchboxen. Bei Verurteilung drohen bis zu zehn Jahre Gefängnis.

The Trial of the Chicago 7 ist das charakteristische Beispiel eines Gerichtssaaldramas, allerdings mit der Besonderheit, dass hier kein Hohelied auf die Justiz gesungen wird, sondern ihre Fragilität im Vordergrund steht. Der charismatische "Revolutionär", ein Yippie (Youth International Party) namens Abbie Hoffman (ein maßgeschneiderter Part für Sacha Baron Cohen) und sein Kumpel Jerry Rubin (Jeremy Strong) argwöhnen von Anfang an einen politischen Prozess.

Schwarzer Aktivist ohne Anwalt

Aaron Sorkin, der sich an den Originaltranskripten des Prozesses orientierte, lässt kaum Zweifel daran, dass dem tatsächlich so war. Frank Langella ist brillant als stur paternalistischer Richter Julius Hoffman, der insbesondere den mitangeklagten Black-Panther-Mitbegründer Bobby Seale (Yahya Abdul-Mateen II) nie zu Wort kommen lässt, obwohl er als Einziger ohne Rechtsbeistand auskommen muss.

Es gehört zu den Vorzügen des Films, dass er die Widersprüche der Fraktionen im Auge behält. Streitigkeiten etwa darüber, wie eine progressive Politik in Zukunft zu bestreiten wäre (Sachpolitik versus Medienspektakel), finden sich auch im Lager der Angeklagten. Tom Hayden (Eddie Redmayne), Kopf der Students for a Democratic Society, besetzt die gemäßigte Position, er will Veränderung von innen heraus.

Protest in Richterrobe

Vielstimmig bleibt der Film auch in der Wahl der dramatischen Mittel. Rückblenden rekapitulieren das Geschehen in Chicago. Der über Monate währende Prozess trägt anfangs noch komödiantische Züge, der Gerichtssaal gerät zum Politzirkus, wenn sich der Anarchist in Abbie Hoffman in Zwischenrufen offenbart und er aus Protest in Richterrobe erscheint. Mit dem gedemütigten Seale und immer unverhohleneren Behinderungsversuchen wächst der Frust. Mark Rylance agiert als kämpferisch-verkniffener Anwalt William Kunstler, der seine Verwunderung über die Voreingenommenheit des Richters nicht verbergen kann, besonders prägnant.

Sorkin ist ein Veteran auf dem Gebiet des linksliberalen Politik-Entertainment, er hat die langlebige Polit-Serie The West Wing miterfunden und Drehbücher zu Filmen wie The Social Network verfasst. Dass er gerade jetzt diesen Stoff umgesetzt hat, ist zwar auch dem Zufall gedankt (er hat länger in der Schublade gegärt), spricht aber trotzdem für seinen Instinkt: Rund um den Disput um die Nachfolge der verstorbenen Höchstrichterin Ruth Bader Ginsburg und die Eskalationen zwischen Demonstranten und Nationalgarde in Baltimore erhält der Film besonderes Gewicht. Die Demokratie in den USA ist verwundbar, wo die Politik den Rechtsstaat unterwandert. Aber wer schaut noch zu? (Dominik Kamalzadeh, 2.10.2020)