Den Nom de Guerre "Tito" nahm Josip Broz als Funktionär der Kommunistischen Partei Jugoslawiens an.

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Er hat die bolschewistische Revolution 1917 als österreichisch-ungarischer Kriegsgefangener und dann als freiwilliger Rotgardist miterlebt. Er hat mit seiner kommunistischen Partisanentruppe die Hitler-Armee zum Rückzug gezwungen. Er ließ tausende Menschen ermorden.

Er bot Stalin erfolgreich die Stirn. Er finanzierte das neue Jugoslawien großteils mit westlichen Krediten – und gründete die Bewegung der Blockfreien, die sich gegen die westliche wie östliche Hegemonie stellte.

Er genoss die Pose eines kommunistischen Königs – und fühlte sich doch am wohlsten als der "ewige Partisan". Diesen Untertitel gibt die deutsche Historikerin Marie-Janine Calic, geschätzt für mehrere Standardwerke über die Geschichte Jugoslawiens und Südosteuropas, ihrer neu erschienenen Tito-Biografie.

Scheitern des Lebenswerks

Als Josip Broz Tito am 4. Mai 1980 nach wochenlangem Todeskampf in der Universitätsklinik von Ljubljana starb, dämmerte das Scheitern seines Lebenswerks schon herauf. Viele Menschen im In- und Ausland spürten es, wollten es aber nicht glauben. Vielleicht war die Trauer in Jugoslawien quer durch alle Bevölkerungsschichten auch deshalb so groß.

In internationalen Medien wurde spekuliert, dass die Ärzte auf Geheiß der Belgrader Führung den Staatschef so lange künstlich am Leben erhalten sollten, bis die Begräbnisfeierlichkeiten mit dem zu erwartenden Andrang aus aller Welt durchorganisiert seien. An der Trauerzeremonie nahmen dann 209 Delegationen aus 128 Staaten teil, darunter vier Könige und sechs Prinzen, 31 Präsidenten, 22 Premierminister und 47 Außenminister.

Im Rückblick scheint es, als sei schon damals das moderne Jugoslawien zu Grabe getragen worden. Es überlebte seinen Schöpfer denn auch nur ein knappes Jahrzehnt. Was folgte, war der blutigste Gewaltausbruch in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Nom de Guerre "Tito"

Bauernsohn, Bolschewist, Revolutionär, Parteiarbeiter der Komintern, Partisanenführer, Staatsgründer, stalinistischer Autokrat, Abtrünniger, Reformkommunist, Weltbürger, Richter und Schlichter, Elder Statesman: die Kapitel des Buches umreißen Titos Werdegang, seine Prägungen, seine Wandlungsfähigkeit, seinen politischen Instinkt.

Hineingeboren in ärmste Verhältnisse am 7. Mai 1892 als Sohn einer Slowenin und eines Kroaten im kroatischen Kumrovec nördlich von Zagreb, absolvierte er eine Schlosserlehre und trat in die Gewerkschaft und damit automatisch in die Sozialdemokratische Partei ein.

Später arbeitete er unter anderem als Einfahrer bei den Daimler-Werken in Wiener Neustadt. 1913 wurde er in die österreichisch-ungarische Armee eingezogen. 1915 geriet er als Unteroffizier, schwer verwundet durch einen Bajonettstich, in russische Gefangenschaft.

Den Nom de Guerre "Tito" nahm Josip Broz als Funktionär der Kommunistischen Partei Jugoslawiens an, kurz bevor er 1934 nach Wien reiste, wo er ins Zentralkomitee der KPJ kooptiert wurde. Wegen der Verfolgung im Königreich Jugoslawien hatte die Parteiführung ihren Sitz zwei Jahre zuvor ins Wiener Exil verlegt.

Tito, ein in seiner Heimatregion verbreiteter Vornahme, sei ihm "einfach so eingefallen", gab er später an. Weitergehende Schulung in kommunistischer Agitation, Propaganda und Organisation – und vermutlich auch militärische Ausbildung – erhielt Tito dann in Moskau. Dort lernte er auch Stalins Terror kennen.

Weicher Autokrat

Calics Ausführungen legen nahe, dass Tito an die Sache des Kommunismus als Basis für ein friedliches Zusammenleben in materieller Sicherheit glaubte, aber in späteren Jahren einsah, dass ideologischer Rigorismus in die Sackgasse führt. Eine "totalitäre Diktatur" sei das kommunistische Jugoslawien nur bis 1953 gewesen (Stalins Todesjahr).

Danach habe sich Tito zum "weichen Autokraten" gewandelt. Titos Bruch mit dem Sowjetdiktator im Jahr 1948 scheint einen starken psychologischen Faktor zu haben: zwei Machtmenschen, die spüren, dass sie einiges gemeinsam haben. Großmachtträume zum Beispiel, vor denen auch Tito, was den Balkan betrifft, nicht gefeit war.

Und dass er von Stalin lernte, bezeugt unter anderem Goli Otok, die "Kahle Insel" zwischen Krk und Rab. Besondere Ironie: Im dortigen Straf- und Arbeitslager wurden nach Titos Bruch mit dem russischen Despoten großteils jugoslawische Stalinisten "umerzogen".

Unbedingter Wille zur Macht

Titos Erfolg, sein Ruhm gründen auf seiner eisernen Selbstdisziplin, seinem unbedingten Willen zur Macht – und vor allem auf dem von ihm sorgfältig gepflegten Partisanenmythos. Der Krieg, so sagte er seinem Biografen, sei die wichtigste Phase seines Lebens gewesen: Da "habe ich am meisten von mir gegeben".

Als es darum ging, "sein" Jugoslawien nachhaltig abzusichern, versagte er. So wie er es nicht schaffte, einen allseits akzeptierten Nachfolger aufzubauen, verkannte er, der überzeugte Nichtnationalist, die Sprengkraft des Nationalismus, die ihren Nährboden in wiederbelebten historisch-kulturellen Gegensätzen und im krassen Wohlstandsgefälle des Vielvölkerstaates fanden.

Doch bei aller Akribie der Autorin und den vielen Beleuchtungswinkeln, aus denen sie ihr Objekt betrachtet, bleiben der Mensch Tito, seine Gefühle, seine möglichen Selbstzweifel, seltsam im Schatten.

Das ist Calic offensichtlich bewusst, denn sie beginnt ihr Buch mit einem Ausspruch Titos bei der Machtübernahme 1945: "Revolutionäre haben keine persönliche Biografie." Könnte es sein, dass die meisten von ihnen gerade deshalb scheitern – und nicht am allzu Illusionären ihrer Vision? (Josef Kirchengast, 5.10.2020)