Krisen und Katastrophen, die zur Bildung "notbedingter Solidarität" führen, erfordern Maßnahmen, in welchen die Politik in verstärktem Ausmaß Kooperationen mit beratenden Wissenschaftsdiskursen eingeht.

Foto: AFP / Menahem Kahana

Krisen und Katastrophen vom Typus Covid-19 sind ähnlich wie die Klimakrise nicht durch einen unvermittelten und mehr oder weniger plötzlichen Einbruch von Natur- und Sozialgewalten gekennzeichnet. Das Spezifikum einer solchen Bedrohung liegt in ihrem Mangel an unvermittelter Wahrnehmbarkeit und an ihrer relativen Unberechenbarkeit. Deshalb haftete ihr anfangs ein ausgeprägter Charakter des Unheimlichen mit einem Mix aus Kriegsvorstellungen, Misstrauenshaltungen, Verstörungsmomenten und Science-Fiction-Illusionen an.

Wie ein "Alien" agiert das Virus als ein Partialobjekt, das sich von einem Körper ablösen und in andere Körper eindringen kann, was zu einer Reihe von individuellen und kollektiven Abwehrmaßnahmen Anlass gibt. In bedrohlichen individuellen und kollektiven Krisensituationen, die mit ausgeprägten Einschränkungen und Entbehrungen einhergehen, sind psychosoziale Dynamiken wirksam, die auf einer Abfolge von Frustration, Aggression und Regression beruhen.

Die Grenzen des Ich

Dieser Dreischritt wird nicht immer vollständig durchlaufen, und er führt auch zu verschiedenartigen Ausgestaltungen sowohl auf der Ebene aggressiver Handlungen als auch auf der Basis regressiver Tendenzen im Hinblick auf bevorzugt aufgesuchte Organisationsformen, die der Kompensation und der Wiederherstellung eines seelischen Gleichgewichts dienen.

Geht man davon aus, dass soziale Kommunikation mit ganzheitlichen zwischenmenschlichen Begegnungen für den größten Teil unseres Wohlbefindens sorgt, so sind schon übliche und für das kollektive Wohl sorgende Versagungen verantwortlich für jenes Unbehagen, das Freud zufolge der Kultur als Triebverzicht inhärent ist.

Dem Freiheitsverlust durch Subordination unter die Gesetze der Gemeinschaft steht ein Zuwachs an Sicherheit gegenüber. Dieser prinzipielle gegenseitige Ausschluss von Freiheit und Sicherheit zeigt sich auch in jenen sozialen Aggregatzuständen, die durch den Begriff "Massenseele" charakterisiert sind.

In seinem Essay Massenpsychologie und Ich-Analyse weist Freud darauf hin, dass in Massenbildungen Menschen teilweise auf ein Niveau vor der Konstituierung ihrer stabilen Ich-Grenzen regredieren, dabei zwar einen Schwund ihrer persönlichen Identität erleiden, dafür aber ein Gefühl von letztlich prekärer Geborgenheit und unendlich scheinender Macht erlangen.

Individuelle Abwehrmuster

In einer gegenseitigen libidinösen Induktion verbinden sich die Individuen in ihren Ich-Instanzen miteinander und projizieren gleichzeitig ihr Ich-Ideal auf eine Führerfigur oder eine gemeinsame Idee, welchen sie auch in gewalttätigste Aggressionshandlungen Gefolgschaft zu leisten geneigt sind.

Krisen und Katastrophen, die zur Bildung "notbedingter Solidarität" führen, erfordern Maßnahmen, in welchen die Politik in verstärktem Ausmaß Kooperationen mit beratenden Wissenschaftsdiskursen eingeht. Nicht selten schlagen derartige Bündnisse in politisch gestützte Expertenregierungen um.

Individuelle Abwehrmuster gegen Gefahren und Bedrohungen variieren je nach Persönlichkeitsstruktur, aber auch in Abhängigkeit von soziokulturell determinierten Reaktionsmodellen. Die Covid-19-Pandemie stellt insofern eine Herausforderung dar, als ihre globalen Bewältigungsmaßnahmen ein in der Seuchenbekämpfung nie da gewesenes Ausmaß erreichen. Neben ihren gravierenden ökonomischen Auswirkungen belasten sie nachdrücklich das Gemeinschaftsleben.

Sündenbockstrategien

Äußerungen der frustrationsbedingten Aggressivität können entweder nach außen projiziert werden oder gegen die eigene Person gerichtet sein. Verschwörungstheorien und Sündenbockstrategien einerseits und Vorstellungen von Eigenverschuldung oder Versündigungsideen andererseits wachsen auf diesem oft von politisch Verantwortlichen gedüngten Boden, sofern nicht überhaupt Verleugnungsstrategien oder aber Regressionsbewegungen eingesetzt werden.

Unter den Bedingungen des Lockdowns mit verordneter physischer Distanz boten sich Rückzüge auf orale und anale Stufen mit entsprechenden Partialobjekten an, wobei andere Triebbefriedigungen durch mediale Technologien gefördert wurden.

Wenn auch für viele der gesteigerte Rundfunk-, Fernseh- und Videokonsum nur einen bedingten Ersatz für Theater, Kino und Konzert bot, so kam er doch jenen Bedürfnissen weitgehend entgegen, die im diesfalls weniger bedenklichen Ruf nach panem et circenses propagiert wurden.

Da war es auch kein Fehler, wenn die politisch gestützten und hauptsächlich aus Ärzten, Ökonomen und Mathematikern zusammengesetzten Expertengruppen bei der Sicherstellung der Basisversorgung Luxusgüter berücksichtigten.

Und es war nicht unklug, wenngleich nicht einer gewissen Ironie entbehrend, wenn dabei selbst der viel geschmähte Tabakkonsum in die Kategorie Grundversorgungsmittel fiel. Angesichts prall gefüllter Kühlschränke beschäftigten sich weltweit kursierende Witzvideos mit zu erwartenden Gewichtszunahmen und wiesen auf Annehmlichkeiten in der Quarantäne hin.

Klopapier

Aus einer analerotischen Perspektive betrachtet war beides möglich: triebfreundliches Behagen in der Unkultur mit einem relativ unbekümmerten Tagesablauf im Pyjama oder aber, vonseiten der Abwehr aus gesehen, ein forcierter Angriff auf Unordnung und Schmutz mit aufs Penibelste durchgeführten Hygienemaßnahmen.

In diesem Zusammenhang ist auch die viel beachtete und vielbelächelte Skurrilität des Hamsterns von Klopapier zu betrachten, dessen Sinn sich aus der Nähe des Defäkationsdrangs zum Affekt von Angst und Schrecken ergab.

Im Sinne identitätsbildender sozialpsychologischer Unterschiedlichkeiten gestaltete sich auch der Umgang mit den Corona-bedingten Restriktionen und Ängsten nicht in allen Ländern gleich. So wurde kolportiert, dass es in Italien neben einem Engpass an Rotwein auch zu Schwierigkeiten in der Kondomversorgung gekommen sein.

Eine relativ reife und gleichzeitig paradox anmutende Defensivfunktion kommt dem Humor zu, der sich auf den Grundtypus Galgenhumor zurückbinden lässt. Daher hat auch in der ersten Zeit der Krise der österreichische Bundespräsident mit Berechtigung angemahnt, bei aller Katastrophenstimmung nicht ganz auf den Spaß zu vergessen.

Abgesehen von archaischen Phantasmen der Vernichtung und abgesehen von der möglichen Aktivierung hypochondrischer Tendenzen ist in Anbetracht der durch ein höheres Lebensalter definierten Risikogruppe die virale Bedrohung auch durch die Wiederbelebung von ödipalen Konfliktkonstellationen gekennzeichnet.

Generationenkonflikte

Während unter den Bedingungen der in den Hintergrund gedrängten globalen Klimakrise die Erwachsenenwelt unter die Anklage der jüngsten Generationen und unter deren Vorwurf gestellt wurde, das Leben der Kinder rücksichtslos zu gefährden, findet unter der neuen Gefahrensituation mit Schutzmaßnahmen gegenüber den Älteren eine Umkehrung mit der Wiederbelebung unbewusster transgenerationeller Konflikte statt.

Symbolgestalten wie Kassandra, "die apokalyptischen Reiter" oder aber Figuren als Vertreter anarchischer Sorglosigkeit wie "der liebe Augustin" markieren Eckpunkte der schwierigen Balance zwischen Panikmache und Verharmlosung.

Besonnenheit und empathischer Solidaritätshaltung stehen dann Bewältigungsstrategien gegenüber, die ins Neurotische, Psychotische oder Perverse hineinreichen. Auf derartigen pathologienahen Nährböden gedeihen Verschwörungstheorien, Weltuntergangsprophezeiungen oder aber ein zynisches Genießen der Katastrophe.

Zynismus und Kaltschnäuzigkeit angesichts desaströser Einbrüche mit gravierenden Folgen kennzeichnet auch die politische Haltung autoritärer Machthaber, die oft nicht davor zurückschrecken, ihr eigenes Leben einem Spiel mit der tödlichen Gefahr auszusetzen.

Äußerungen des Todestriebes und eine unheilvolle Verknüpfung von Todesangst und Begehren des Todes sind in diesem Zusammenhang ebenso präsent wie in philosophisch fundierten posthumanistischen Positionen oder in De Sades Philosophie vom sekundären Tod: Demzufolge müsse der Mensch nicht nur den Kreislauf der Natur unterstützen, Leben möglichst umgehend in Tod überzuführen, sondern ihn dabei auch noch übertreffen, indem ein absoluter Tod ohne Reste und Spuren anzustreben sei.

Wenn andererseits der Bewahrung von Leben eine unbedingte und beinahe heilige Vorrangstellung eingeräumt wird, so gerät diese Werthaltung auch in Anbetracht von Covid-19 in eine Schieflage. Eingeschüchtert durch den Nützlichkeitsdiskurs der Ökonomie und gegenübergestellt dem ansonsten sorglosen Umgang mit Menschenleben erhält sie eine bisweilen heuchlerische Färbung.

Angst und Misstrauen

Bei der Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Sicherheitsvorkehrungen sollte man sich der Überlegung nicht verschließen, dass auch Verschiebungsmechanismen die defensiven Handlungsweisen mitgestalten. So könnte die Konzentration auf die nicht zu verharmlosende Covid-19-Pandemie den Blick auf die weitaus größere Klimakatastrophe in den Schatten der Aufmerksamkeit stellen.

Die Bemühungen der Ökonomiepolitik, einen Status quo ante möglichst rasch wiederherzustellen, haben einen bitteren Beigeschmack. Wie man mittlerweile erkennen muss, zerbröckelt bei nachlassender Gefahr die auf Angst und Misstrauen beruhende "Not-Solidarität". Wird es gelingen, stattdessen eine ethisch gestützte Solidarität zu etablieren, bei welcher sowohl gesinnungs- als auch verantwortungsethische Prinzipien Berücksichtigung finden? (August Ruhs, 4.10.2020)

August Ruhs (74) lebt als Psychiater und Psychoanalytiker in Wien. Er lehrt unter anderem an der Universität Wien.


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