Es ist acht Uhr in Früh. Meine Kollegin und ich haben vor der Schule Aufsicht gehalten, auch um die geforderten Abstandsregeln zu kontrollieren – Covid ist überall, unsere neuen Aufgaben nicht endend. Wir gehen in den ersten Stock und stellen zum x-ten Mal fest, dass genau ein Klassenraum nicht aufgesperrt wurde. Ganz ohne Abstand stehen die Schülerinnen und Schüler in einer Traube vor der Türe. Schulintern scheint diese elfköpfige Klasse nicht zu existieren. Den Eindruck hatte ich schon eine Viertelstunde davor, als ich die Obstkiste der Deutschförderklasse vom Schulwart abholen wollte. „Nein, die bekommen die nicht. Die haben ja das Obst in der Stammklasse“, erklärt er mir.

Es gibt kein Klassenbuch, kein MS-Teams, keine Aufsicht, keine Zeugnisse, kein einhaltbares Curriculum, da weder beständige Schülerzahlen, noch zeitliche Planbarkeit und vor allem wenig Zukunftsaussichten.

Nicht-Klasse

In der Deutschförderklasse verbringen die Schülerinnen und Schüler derzeit 20 Unterrichtstunden miteinander. Abgeschottet und ein bisschen weggesperrt vom schulischen Alltag, lernen sie hier gemeinsam die Unterrichtssprache. Sie kommen aus der Ukraine, Syrien, Rumänien, Türkei, Bulgarien, aus Ghana, Ungarn und Tschechien, und sind zwischen zehn und 15 Jahren alt. Trotz der Altersunterschiede haben sich in den letzten Monaten Freundschaften in dieser Klasse entwickelt. Aber eigentlich sind sie ja keine Klasse. Sie sind eine Nicht-Klasse. Ein Restpool von Übriggebliebenen, von unzureichenden Kindern. So ihre Beurteilung nach der MIKA-D Testung (Messinstrument zur Kompetenzanalyse-Deutsch). Eine vorübergehende Angelegenheit, die möglichst schnell durchlaufen werden sollte. Und dennoch nach zwei Jahren beendet sein muss. Unabhängig von ihren Sprachkompetenzen, ihren potentiellen Traumata, ihren emotionalen Befindlichkeiten. Wie und warum diese Kinder ihr Heimatland verlassen mussten, ist hier irrelevant. Funktionieren sollen sie, ausreichend werden.

20 Stunden Deutsch pro Woche. Offiziell sind keine Ausflüge, kein Sport, kein Werken vorgesehen. Heißt es ja auch DEUTSCHförderklasse und nicht Beihilfe zum Wohlfühlen in der neuen Lebensrealität oder so ähnlich.

Deutschförderklassen

Deutschförderklassen haben keine Schülerobergrenze. Sie können sich täglich ändern, neue Schülerinnen und Schüler kommen, alte werden „herausgetestet“. Die absurdeste Wortschöpfung übrigens seit „entfreunden“. Und doch ähnlich. Erst eine Gemeinschaft, ein Zusammen-, ein Füreianderdasein. Dann wird einer oder eine zu gut. Zur Strafe muss er oder sie in seine Stammklasse, die er/sie in nicht-Corona Zeiten neun Stunden pro Woche besucht. Der „Stamm“ ist hier sehr euphemistisch zu interpretieren. Als Außenseiter haben sie meist weder Platz noch Bücher und schon gar keine Freunde oder Verbündete.

Förderklassen sind Nicht-Klassen.
Foto: derstandard.at/Regine Hendrich

Die Stammklasse

Die Stammklasse ist jene Klasse, die der Schülerin, dem Schüler altersmäßig zugeteilt wird. Oft haben die sie einen Platz in der letzten Reihe, weil sie ja ohnehin nie oder selten in der Klasse sind. Der Zugang zum Tagesgeschehen fehlt ihnen. Wurde etwas ins Mitteilungsheft eingetragen? Entfällt eine Stunde? Steht ein Lehrausgang am Plan?

Wenn sie Pech haben, erklärt die Lehrkraft noch vor der versammelten Klasse, dass sie oder er eh nichts verstehen würden. Damit erhalten quasi die Klassenkollegen die Legitimation sich nicht um die Schülerin, den Schüler kümmern zu müssen. Irgendwie werden also die neun Stunden in der Klasse abgesessen. Es gibt sie, die Schulkinder, die trotz dieser Umstände in der Klasse Anschluss finden. Den meisten wird aber unterstellt, dass sie keine Lust haben, sich zu integrieren. Dass sie abblocken, nichts lernen wollen. Klar, sie blocken ab, aber schließlich wurden sie auch nicht gefragt, ob sie nach Österreich wollten oder nicht.

MIKA-D Testung einfach erklärt

Einmal pro Semester muss von „qualifiziertem Personal“ eine Sprachstandserhebung durchgeführt werden. Die Qualifikation erfolgt über ein Online-Seminar – gesprochen in einfacher Sprache. Dieses Messinstrument deckt angeblich verschiedene linguistische Bereiche zu Wortschatz, Sprachverständnis und Sprachproduktion ab. Auf diese Weise wird festgestellt, ob das Schulkind ausreichende Kenntnisse in der Unterrichtssprache Deutsch erworben hat, um dem Unterricht folgen zu können.

Die Testung für den Bereich Mittelschule ist seit Sommersemester 2020 sowohl schriftlich als auch mündlich. Es gibt drei erstrebenswerte Beurteilungen: ausreichend, mangelhaft und ungenügend.

Ausreichend bedeutet, dass er oder sie mit der Stammklasse in die nächste Schulstufe aufsteigen kann. Ungenügend bedeutet, dass der Schüler, die Schülerin in der Deutschförderklasse verbleibt, und im nächsten Schuljahr die Klasse wiederholen muss. Also wieder 20 Stunden Deutschkurs die Woche, wieder nur neun Stunden in der neuen Stammklasse und wieder versäumt er oder sie das meiste vom Unterricht. Mangelhaft bedeutet in dem Covid-Schuljahr 2019/20, dass er oder sie nicht mehr in die Deutschförderklasse gehen muss, aber die Schulstufe wiederholen muss. Die Motivation, dieses Prädikat zu erreichen ist besonders hoch. Theoretisch bekämen diese Kinder dann zusätzliche sechs Deutschförderstunden, die aus Personalgründen meist nicht realisiert werden können. Zumindest nicht, wenn die Anzhal der Schulkinder unter acht beträgt.

Der ausreichende – und somit ordentliche Status – kann nicht erreicht werden, wenn das Kind zum Beispiel statt „Dann geht der Bub weg!“ „Dann der Bub geht weg!“ sagt. Für alle Muttersprachler ist die Bedeutung in beiden Sätzen gleich, nicht jedoch vor dem Gott der Klausel. Und dieser entscheidet über die Zukunft der Kinder. 

MIKA-Testung – die Realität

Uns allen ist klar, dass kaum wer diesen Test bestehen wird, obwohl wir seit der Wiedereröffnung der Schulen nach Corona unwahrscheinlich viel üben. Die zehn Wochen des Lockdowns fehlen gerade diesen Kindern und Jugendlichen besonders. Sie waren zuhause und haben in ihrer Muttersprache kommuniziert, weil ihre Eltern meistens nicht länger als sie selbst in Österreich leben und oft den ganzen Tag in systemrelevanten Berufen arbeiten. Zwar wurde von offizieller Seite immer um Milde bei der Notenvergabe ersucht, bei den Deutschförderklassen muss aber strenger beurteilt werden als zuvor. Dass viele Kinder nach den Testergebnissen in Tränen ausbrechen, wird vom Ministerium nicht gesehen.

Unsere Schülerinnen und Schüler schaffen das mit der Inversion gar nicht so schlecht, aber in der Prüfungssituation geht dann gar nichts mehr. Der Druck ist groß. Schließlich wollen alle in eine „normale“, eine „echte, richtige, ordentliche“ Klasse mit Noten gehen. Vor allem aber wollen sie nicht sechs oder sieben Jahre in der Sekundarstufe 1 verbringen. Hier geht es um Zeit, um wahre Lebenszeit.

Schaffen sie die Prüfung, gibt es meist noch den einen oder anderen Kollegen, der sie mit einem saftigen „Fleck“ am Aufsteigen hindert. „Der versteht ja nicht mal 'Haube'! Das kann nichts werden!“, lautet die eher fragwürdige Argumentation.

Von elf Schülerinnen und Schülern haben nur zwei ein Mangelhaft „geschafft“. Und die sind jetzt schwer enttäuscht, dass sie die Klasse wiederholen müssen.

Nach zwei Jahren?

Ja, man sagt, Kinder lernen schneller und besser Deutsch, wenn sie in einer mehrheitlich deutschsprechenden Klasse sind. Sie lernen auch im Unterricht mit den anderen mit, haben alle Gegenstände und sind deutlich besser in der Klasse integriert.

Nach zwei Jahren müssen sie ohnehin in eine Stammklasse. Egal, ob nun der Test mit mangelhaft oder sonst was beurteilt wird. Dann bekommen sie Noten, ob sie sprechen und schreiben können oder nicht. Das definiert in etwa das Sprachniveau der Stammklasse.

Sinnvoll? Naja – wird im Bildungssystem nach Sinn und Sinnhaftigkeit gefragt? Nach Machbarkeit und Effizienz? Blödsinn! Wir sind schließlich nicht in der Privatwirtschaft. Evaluation ist Luxus und Messbarkeit wird Pi mal Daumen bestimmt. Willkommen in der Realität der Mittelschule. (Erika M., Claudia R., 9.10.2020)

Erika M. (Pseudonym, Name der Redaktion bekannt), 57, unterrichtet seit 30 Jahren in Wien. 

Claudia R. (Pseudonym, Name der Redaktion bekannt), 43, unterrichtet seit einem Jahr an einer MS in Wien. 

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