Foto: Culturbooks

Ich muss schon sagen, eine derartige Ballung an negativen Vibrations zwischen zwei Buchdeckeln ist mir schon lange nicht mehr untergekommen. Und es sind nicht die Schicksalsschläge, die die Protagonisten von Camilla Grudovas Geschichten treffen, nicht die bizarren Umstände, unter denen sie ihr Leben fristen müssen, und nicht die dystopischen Gesellschaftsentwürfe, die mitunter im Hintergrund anklingen. Nein, es sind ihre Neurosen. In einem fort lesen wir, wie die Figuren von nicht nachvollziehbaren Ängsten getrieben werden, ihren Hass und Ekel auf banale Objekte bekunden und Scham aufgrund von Lächerlichkeiten empfinden (zum Beispiel weil sie ein gekochtes Ei gegessen haben). Das ist auf Dauer wirklich, wirklich kräfteraubend.

Dabei beginnt der Band durchaus konstruktiv: "Auftrennen" ist ein kurzes feministisches Gleichnis über Frauen, die sich buchstäblich häuten und so ihr wahres Ich ans Licht bringen. Vergleichbares gelingt deren Nachfolgern und Nachfolgerinnen in den weiteren Erzählungen nur selten. Die meisten bleiben Gefangene ihrer Situation, und wenn mal jemandem der Ausbruch gelingt, dann versandet der in einem ambivalenten oder schlicht und einfach fehlenden Schluss.

Seltsame Welten

"Notizen einer Spinne", eine der besseren Erzählungen, dreht sich um einen achtbeinigen Mann, der es als "Sohn der Arachne" zur lokalen Berühmtheit gebracht hat. Da er in Ermangelung eines weiblichen Gegenstücks an Einsamkeit leidet, lässt er eine Reihe von Näherinnen zu sich nach Hause kommen. Die sind aber nur der Treibstoff für das eigentliche Objekt seiner Begierde: eine Nähmaschine, deren geschwungene Beine für ihn unwiderstehlich sind. Diese Geschichte könnte ohne weiteres der Bizarro-Literatur der 2000er Jahre entsprungen sein: Die Umstände sind gelinde gesagt ungewöhnlich – der Erzählmodus aber im guten Sinne konventionell.

Gegenmodell "Wachsig": In dieser Geschichte tauchen wir in eine triste Welt ein, in der alle auf seltsam normierte Weise unter ärmlichen Umständen leben. Alle Frauen arbeiten in irgendwelchen Fabriken, alle Männer leben davon, dass sie für irgendwelche Prüfungen lernen, bei deren Bestehen sie ein Preisgeld erhalten. Die Hauptfigur führt mit einem Mann ohne Papiere ein geheimes Familienleben, ständig in Angst aufzufliegen. Klingt gut, nur leidet das Ganze unter der entsetzlich monotonen Stimme der Ich-Erzählerin, mit der Grudova die Geschehnisse herunterleiern lässt.

Bruch mit Erzählkonventionen

Es ist bei weitem nicht das einzige Mal, dass die kanadische Autorin herkömmliche Erzählweisen bewusst unterläuft. Mehrere Geschichte brechen ab, ohne dass man von einem Schluss sprechen könnte. "Edward, verwöhne nicht die Toten" wiederum wirkt aufgrund seiner Gedankensprünge, als würde es aus Kindermund kommen. Und "Ungarische Sprotten" beginnt zwar humorvoll: Ein Mann verliert bei einer Reise seine Koffer und beschließt, für den nächsten Trip sämtliche Habseligkeiten einzudosen. Das mündet dann aber enttäuschenderweise in eine simple Aufzählung des Konserveninhalts.

Noch einmal anders sieht es mit "Die Mäusekönigin" aus, das am ehesten einer Traumlogik folgt. Der Plot – eine Frau wird während der Schwangerschaft verlassen – mag an der Oberfläche recht alltäglich erscheinen, darunter aber lauert der Irrsinn. Beim (Ex-)Paar handelt es sich um zwei von der römischen Antike besessene Lateinstudenten. Er arbeitet auf einem Friedhof und bringt eines Nachts die Leiche einer zwergenhaften Frau mit nach Hause – was seine Partnerin als ebenso selbstverständlich hinnimmt wie ihre spätere Verwandlung in einen Werwolf. Auch die ansatzlose Geburt eines Fleischklumpens in "Rhinozeros" scheint eher in Träumen als in der wachen Welt zuhause zu sein.

Sie hatte noch kein Kind bekommen. Einmal kam etwas Ohrähnliches aus ihr heraus, und sie legte es in eine Schachtel, für den Fall, dass noch weitere Stückchen aus ihr herauskommen würden und sie sie zusammenfügen musste. Groteske Geburten und Metamorphosen sind ein wiederkehrendes Motiv in Grudovas Geschichten, ebenso wie das Leben an der Armutsgrenze und repressive Umstände. Puppen, Nähmaschinen und Dosennahrung gehören zu den meistverwendeten Requisiten, und bis auf wenige in der Gegenwart angesiedelte Ausnahmen führen uns die Geschichten zumeist in ein Ambiente, das dem frühen 20. Jahrhundert entspricht – dem aus unserer Zeitlinie oder dem aus einer ins Merkwürdige gedrehten Parallelwelt.

A B C D I L M N O P U

Insgesamt stehen die 13 Geschichten in Grudovas erstem (und nach drei Jahren immer noch einzigem) Buch ganz im Zeichen des Surrealismus. Verwandtschaften könnte man zu Franz Kafka ebenso wie zu Jeff VanderMeer oder Karin Tidbeck ausmachen – mit dem einen Unterschied allerdings, dass die deutlich mehr Wert auf den erzählerischen Aufbau legten. Als letztes Beispiel aus diesem Band sei die Titel"geschichte" genannt, die in vollem Wortlaut so geht: Das Alphabet der Puppen hat elf Buchstaben: A B C D I L M N O P U. – Ja, das mag etwas bedeuten. Es mag aber auch das literarische Äquivalent jenes unnahbaren Teenagers sein, über den auf dem Schulhof alle ehrfürchtig flüstern, weil er die mysteriöse Pose perfektioniert hat. Bis ihn eines Tages doch jemand anspricht und sein dunkelstes Geheimnis enthüllt: nämlich dass er gar keines hat.

"Das Alphabet der Puppen" ist definitiv nicht mein Fall – für andere aber mag es eine Offenbarung sein, darum sollte es auch vorgestellt werden. Es ist ohne jede Frage ... interessant.