Foto: Fischer Tor

Das wohl wichtigste Ereignis des Jahres 2016 auf dem deutschsprachigen Phantastik-Markt war die Eröffnung der neuen SF-&-Fantasy-Schiene des Fischer-Verlags: Fischer TOR, eine Kooperation mit Tor Books, dem seinerseits wichtigsten Verlag für Science Fiction in der englischsprachigen Welt. Das ist nicht nur eine willkommene Bereicherung, sondern mittlerweile auch eine dringend notwendig gewordene: Die Programme der klassischen deutschen Marktführer sind deutlich schmaler geworden (hui, was war das vor 30 Jahren noch für ein Angebot!); und leider haben sie im Schnitt auch an Qualität eingebüßt. Kleinverlage springen zum Teil in die Bresche, können mit ihren begrenzten Mitteln die Lücke aber natürlich nicht schließen. Höchste Zeit, dass ein weiterer Player die Bühne betritt.

Zum Einstand serviert uns der in London lebende Australier Adrian J. Walker eine Portion Apokalypse. Der Plot ist rasch erzählt: Ein gewaltiger Meteoritenschauer geht über der nördlichen Hemisphäre nieder und legt insbesondere Großbritannien in Schutt und Asche. Hauptfigur Edgar Hill zählt mit seiner Frau und den beiden Kindern zu den wenigen Überlebenden von Edinburgh. Durch unglückliches Timing wird er aber von seiner Familie getrennt: Während sie per Hubschrauber nach Cornwall ausgeflogen wurden, wo die Evakuierungsschiffe der internationalen Gemeinschaft warten, muss Edgar ihnen nun über Land folgen. Mit ein paar Weggefährten gründet er ironisch den "Laufverein am Ende aller Zeiten" (so auch der Originaltitel). Und Eile ist geboten, denn die rettenden Schiffe legen zu einer feststehenden Deadline ab und werden danach nie mehr zurückkehren.

Seitenblick auf die Filmwelt

Ein Vater, der Übermenschliches leisten muss, um mit seiner Familie wieder vereint zu werden: Das ist der Stoff, aus dem Roland Emmerich und Steven Spielberg ihre Filme stricken. Aber so klischeehaft läuft's bei Walker nicht ab. Dass er wie seine Hauptfigur selber Vater von zwei Kindern ist, ließ mich daher an einen ganz anderen Film denken:

2015 stellte der norwegische Regisseur Ole Giæver auf der Berlinale seinen Film "Mot Naturen" vor. Dessen Hauptfigur, gespielt von Giæver selbst, ist – ganz wie Edgar – ein Familienvater Mitte 30 und fühlt sich – erneut wie Edgar – als Gefangener seines Lebens. Regelmäßig setzt er sich von seiner Familie auf Bergwanderungen ab und lässt dort seinen Gedanken freien Lauf: Was, wenn seine Frau einen Unfall hätte – wäre er dann nicht endlich frei? Aber o Schreck, stell dir vor, sie ist nach dem Unfall nur gelähmt, dann hätte er sie ja erst recht für den Rest seines Lebens am Hals. Und um den Sohn müsste er sich auch noch kümmern ...

Erstaunlicherweise ist einem der Film-Antiheld trotzdem nie wirklich unsympathisch geworden. So richtig witzig wurde es aber nach der Vorführung, als Giæver dem belustigt-fassungslosen Publikum erklärte, dass der Film natürlich nicht autobiografisch sei ... auch wenn die Schauspielerin, die seine Ehefrau verkörperte, seine echte Frau sei ... ach ja, und der Darsteller des Sohnes sei sein echter Sohn. "But it's not autobiographical!!"

Zurück zum Buch

Walkers Ehefrau dürften bei der Durchsicht des Romans ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen sein wie Giævers, als sie das Drehbuch von "Mot Naturen" las – denn von Vaterfreuden kann bei Edgar keine Rede sein. Die Familie empfindet er als Belastung, der gemeinsame Besuch in der lärmenden Hölle eines Kinderfreizeitparks liest sich aus Edgars Sicht fast so apokalyptisch wie später der tatsächliche Weltuntergang. Auf dem langen Trek durch das verwüstete Großbritannien wird Edgar reichlich Zeit haben, seine Ausführung der Vaterrolle zu überdenken und sich dabei einigen unbequemen Wahrheiten zu stellen.

Eine solche Wahrheit – und ein weiterer Bruch mit Klischees – ist auch, dass Edgar nicht der Dennis Quaid, der alle anderen antreibt, sondern eigentlich das schwächste Glied der Gruppe ist. Und er muss sich mit seiner allgemeinen Misanthropie auseinandersetzen: Fandet ihr es etwa nicht tröstlich, dass die Show endlich vorüber war, dass wir nicht mehr gezwungen waren, endlos so weiterzumachen?, denkt er anfangs – als wäre die Apokalypse als Antwort auf seine persönliche Unzufriedenheit gekommen.

Schon als Kind war es Edgars Lieblingsphantasie, eines Tages in einer Welt ohne Menschen aufzuwachen. Das ist nun einigermaßen in Erfüllung gegangen. Zusammen mit ein paar mehrdeutigen Passagen zu Beginn ließe dies übrigens theoretisch auch die Lesart zu, dass das ganze Romanszenario nicht "real", sondern eine elaborierte Weiterführung solcher Kindheitsphantasien ist. Aber zugegeben, das würde den Interpretationsrahmen vielleicht überdehnen.

Die Welt danach

Das Setting selbst ist nichts wirklich Neues, wir kennen solche postapokalyptischen Wüsteneien seit dem Zeitalter des Kalten Kriegs (hier eben ohne Strahlung, aber auch ohne Zombies). Und auch die Figuren, die diese Welt bevölkern, haben wir alle schon getroffen, spätestens in "Walking Dead": Serienmörder, die arglose Wanderer in die Falle locken, Warlords, die diktatorische Mini-Regimes aufgebaut haben (hier kam originellerweise mal eine Proll-Frau wie aus "Geordie Shore" entsprungen zum Zug), und so weiter.

Erfrischend allerdings, wie Edgar solche BarbarInnen sieht. Er zieht in Gedanken über Bobos und ihren Traum von der "Rückkehr zum einfachen Leben" her, worunter sie Biogemüseanbau im eigenen Garten und Scheunenfeste bei Kerzenschein verstehen – nicht aber Epidemien, zerstörte Ernten und Totgeburten. Und er gesteht den neuen menschlichen Monstern, denen er unterwegs begegnet, die ihre Nachbarn abschlachten und an die Schweine verfüttern, zu, dass ihre Rückkehr zu einem einfachen Leben wenigstens authentisch ist.

Wunderbar geschrieben, mit einer schonungslosen Perspektive versehen, wenn auch durchaus konventionell in Plot und Setting – und nicht zuletzt in seiner Botschaft von Besinnung, Hoffnung und Durchhaltevermögen respektive "Immer weiter! Immer weiter!", wie es der große Philosoph Oliver Kahn ausdrückte: "Am Ende aller Zeiten" ist ein geglückter Start der neuen SF-Schiene von Fischer TOR.