Im Sommer lud DER STANDARD zu Grätzlgesprächen, am Samstag treffen sich nun hunderte Menschen zum Zwiegespräch – wegen Corona auch auf virtuellem Wege.

Foto: Regine Hendrich

DER STANDARD will nicht päpstlicher sein als die Wiener Behörden. Wenn man als Klosterneuburger bei der Gemeinderatswahl antreten darf, dann muss auch die Teilnahme bei "Wien spricht" erlaubt sein. So kam es, dass der Klosterneuburger Tierarzt Holger Herbrüggen mit der Organisationsentwicklerin Elisabeth Petracs aus dem zweiten Bezirk zusammengewürfelt wurde, um in der Endphase des Wahlkampfs über die brennenden Fragen der Hauptstadt zu diskutieren.

Holger Herbrüggen und Elisabeth Petracs nahmen per Videokonferenz an "Wien spricht" teil.
Screenshot: ta

Der Algorithmus funktioniert genau umgekehrt wie beim Dating: je weniger Gemeinsamkeiten, desto wahrscheinlicher die Paarung. Daher schien angesichts von sieben unterschiedlichen Antworten – etwa zu den Themen Wohnen, weiblicher Chancengleichheit und Corona-Management – politischer Streit programmiert. Diese Erwartung erwies sich jedoch als Déformation professionnelle des auf TV-Duelle konditionierten Innenpolitikjournalisten, der sich zwecks Beobachtung in die Videokonferenz einschalten durfte. Tatsächlich ereignete sich ein sachliches und respektvolles Zwiegespräch, das keinen Moderator benötigt hätte.

Leerstehende Wohnungen

Frau Petracs (41) berichtet von den Schwierigkeiten, sich in Wien mit zwei Kindern eine eigene Wohnung leisten zu können, selbst wenn beide Elternteile voll berufstätig sind. Sie kritisiert, dass vor allem Immobilienentwickler von der massiven Bautätigkeit profitieren und der Umgang der Stadt mit freien Flächen zu wenig transparent sei. Herr Herbrüggen (63), langjähriger ÖVP-Funktionär, argumentiert, dass die reellen Baukosten mitunter sehr hoch seien, wodurch man die Wohnungspreise mitunter erklären könne. Er stößt sich allerdings daran, dass Wohnungen teils ohne Nutzungsabsicht als bloße Anlageobjekte gekauft werden. Zudem sei es nicht in Ordnung, wenn Gutverdiener Gemeindewohnungen nicht zurückgeben und diese dann die meiste Zeit leer stehen. Dem stimmt Frau Petracs zu; sie sieht einen Teil des Problems aber auch in der Verwaltung und erzählt von den "absurden Auflagen" zum Einbau von Auslagenfenstern, die ihr der Magistrat für ihre Wohnung zum Erhalt des Stadtbildes vorgeschrieben habe.

Care-Arbeit und Pensionslücke

Was beide Diskutanten positiv finden: die Registrierung der Gäste in Wiener Lokalen zwecks Contact-Tracings. "Das ist ja im Interesse jedes Einzelnen zu wissen, ob man infiziert worden sein könnte. Ich käme gar nicht auf die Idee, da einen falschen Namen hinzuschreiben", meint Frau Petracs. Der Tierarzt pflichtet bei: Es gebe Datenschutzrichtlinien, um Missbrauch zu verhindern, und vor allem zum Schutz der älteren Generation sei eine Unterbrechung der Infektionsketten wichtig.

Und wie steht es mit der Chancengleichheit für Frauen? Für Frauen gebe es immer noch zu viele Hürden, um Karriere und Familienplanung unter einen Hut zu bringen, befindet Frau Petracs. "Das hat sich während des Lockdowns noch drastischer gezeigt, als vor allem Frauen für das Homeschooling zuständig waren", sagt sie. Weil Frauen insgesamt zulasten der Erwerbsarbeit viel Care-Arbeit erledigen, entstehe im Alter eine Pensionslücke für Frauen.

Debatte ganz ohne Wahlkampf

Als Lösungsansatz kann sie sich ein bedingungsloses Grundeinkommen vorstellen. Ihr Pendant ist diesbezüglich skeptisch, kennt aber das Problem unbezahlter weiblicher Arbeit aus seinem Bekanntenkreis. Als Gegenmaßnahme schwebt ihm etwa eine bessere Anrechnung der Kindererziehungszeiten bei der Pensionsversicherung vor. Und er plädiert dafür, dass Männer privat und beruflich mehr zurückstecken.

Nach anderthalb Stunden geht das Videogespräch zu Ende. Die anstehende Wien-Wahl am nächsten Sonntag kam übrigens nicht zur Sprache. (Theo Anders, 2.10. 2020)