Nicole Strüber: "Natur lässt Raum zum Lernen."

Foto: Elisa Meyer

STANDARD: Wegen der Corona-Krise haben sich viele Kinder, vor allem in der Stadt, in den vergangenen Monaten mehr in Innenräumen als sonst aufgehalten. Welche Auswirkungen könnte das auf die Kinder haben?

Nicole Strüber: Anhaltend drinnen zu spielen bedeutet vor allem eines für die Kinder: Stress. Kinder sind draußen entspannter, es fällt ihnen leichter, sich selbst zu beschäftigen. Studien zeigen, dass Kinder, die häufig in der Natur spielen und dabei körperlich aktiv sind, bessere kognitive Fähigkeiten haben. Sie können sich beispielsweise besser konzentrieren. In einer Situation, wie sie infolge der Covid-19-Krise in den vergangenen Monaten aufgetreten ist, kann sich ein solcher Stress dann auch aufschaukeln: Der Stress der Kinder überträgt sich auf die Eltern, die wiederum gestresst auf ihre Kinder reagieren. Es ergibt sich ein Teufelskreis, der häufig darin endet, dass Kinder mit digitalen Geräten ruhiggestellt werden.

STANDARD: Der bekannte Hirnforscher Gerald Hüther sagt, dass Spielen bei Kindern nichts anderes ist als Lernen. Was heißt das konkret?

Strüber: Selbst wenn Kinder beim Spielen augenscheinlich nur Spaß haben, lernen sie. Sie schulen durch die freie Bewegung nicht nur ihre Motorik, sondern lernen auch kognitiv. Sie bilden im Spiel Theorien über ihre Umwelt und lernen zum Beispiel, dass Federn langsamer fallen als Steine. Sie üben im Spiel das reale Leben und lernen darüber. Im Rollenspiel etwa, aber auch, wenn sie miteinander verhandeln, wer wie lange auf dem dickeren Ast sitzen darf. Sie lernen auch, ihre Gefühle zu regulieren, etwa das Gefühl der Frustration, wenn sie beim Balancieren schon wieder nicht die ganze Strecke geschafft haben.

STANDARD: Lernen Kinder beim Spielen draußen mehr als drinnen?

Strüber: Tendenziell ja, denn die Natur bietet dem Kind eine besonders komplexe, aber gleichzeitig unstrukturierte Umgebung. Wir schauen beim Spielen zu, wie Leben funktioniert, entsteht, vergeht und wieder wächst. Kinder können in der Natur ganz nach ihren eigenen Bedürfnissen die Situationen nachspielen, die sie in der realen Welt noch nicht ganz verstanden haben. Sich in der Natur, mit der Natur zu beschäftigen, Spaß zu haben, ganz ohne Stress, lehrt uns viel über uns und unsere eigenen Fähigkeiten.

STANDARD: Oft wird behauptet, die Natur sei der schönste Spielplatz. Dennoch werden in den meisten Fällen Kinderspielplätze mit Schaukeln, Rutschen und Sandkästen konzipiert. Was halten Sie davon?

Strüber: Es wird gewissermaßen vorgegeben, was gespielt wird. Kinder rutschen und schaukeln unheimlich gerne. Kein Wunder, das gibt einen gewissen Adrenalin-Kick. Aber: Kinder brauchen mehr. Kinder brauchen auch die natürliche Umwelt, in der sie zu einem ruhigeren Spiel finden. Ein Spiel, in dem sie ihre Umwelt erkunden, Gesetzmäßigkeiten erkennen oder in Rollenspielen die soziale Welt verstehen.

STANDARD: Wie sieht der perfekte Kinderspielplatz aus?

Strüber: Er darf durchaus Objekte beinhalten, etwa zum Balancieren, Klettern, Verstecken oder für das Rollenspiel. Aber die Objekte sollten wenig ausdifferenziert sein – so könnte ein einfaches, offenes Holzdach auf Stelzen oder auch ein größeres Betonrohr im Rollenspiel ein Haus sein, aber auch ein Schiff. Es könnte zum Balancieren, zum Klettern und zum Verstecken genutzt werden. Heutzutage wird oft mit viel Liebe zum Detail die Welt der Kinder an die der Erwachsenen angeglichen. Spielhäuser sehen aus wie echte Häuser, das Klettergerüst sieht aus wie ein Elefant, der Rüssel ist die Rutsche. Das ist lieb gemeint, folgt jedoch nicht unbedingt dem kindlichen Bedürfnis, sich eine vorgestellte Welt zu erschaffen.

STANDARD: Ob auf dem Spielplatz, in der Natur oder zu Hause: Kinder lieben es, mit Wasser zu spielen. Woher kommt diese Faszination dafür, welche besonderen Eigenschaften hat Wasser?

Strüber: Und diese Faszination hört nie auf, auch nicht bei Erwachsenen. Wasser ist ein tolles Element, mit dem man viel erkunden und gestalten kann. Wenn ich sage, die Natur bietet eine komplexe Umwelt, dann meine ich, dass dazu auch das Element Wasser gehört. Es gibt so viel Leben in unseren Bächen und Flüssen zu entdecken, Jahrmillionen an Geschichte in Stein und Fels, die man im Spiel erkunden kann. Spielen kann man aber überall – egal ob das Wasser auf dem städtischen Spielplatz aus einer Grundwasserpumpe kommt, oder ob ein kleiner Bach zum Staudammbauen einlädt. Auf Erwachsene wirkt Wasser oft beruhigend.

STANDARD: Haben wir Erwachsenen verlernt, wie man in der Natur spielt?

Strüber: Nicht alle, aber viele. Wir Erwachsene sind es gewohnt, unsere Zeit optimal zu nutzen und unproduktive Zeit zu vermeiden. Und das wollen wir an unsere Kinder weitergeben. Es wird deshalb so häufig versucht, das kindliche Spiel zielorientiert zu lenken. Kinder bekommen vorgesetzt, was sie lernen sollen, als hätte man eine Liste zum Abhaken. Und da gehört das Spiel in der Natur oft nicht dazu. Dabei ist es so wichtig, im Kopf zu behalten, dass die Kinder auch dann über ihre Welt lernen, wenn sie auf dem ersten Blick einfach nur Spaß haben, wenn sie herumrennen und wild sind. Der Aufenthalt in der Natur und die Bewegung unter freiem Himmel fördert, fordert und entspannt. Ein freier Kopf, körperliche und mentale Ausgeglichenheit werden uns geschenkt und durch Spielmomente verstärkt. Es tut auch uns Erwachsenen gut, das belegen viele Studien. Und für die Kinder gilt: Die Begeisterung für das Spielen kommt beim Spielen von ganz allein zurück.

STANDARD: Welche Tipps haben Sie für Eltern, die in der Stadt wohnen und nicht so leicht ins Grüne kommen?

Strüber: Grüne Ecken gibt es fast überall. Aber auch ohne Parks oder Wälder kann man gut draußen spielen. Auf der Straße in Pfützen springen, am Straßenrand Kastanien sammeln, mit Steinen auf dem Asphalt schreiben und im Hinterhof verstecken spielen. (Nadja Kupsa, 4.10.2020)