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Sieben Monate hält die gesellschaftliche und zwischenmenschliche Ausnahmesituation bereits an.

Foto: Picturedesk.com / Alex Halada

Die rasante Verbreitung des Coronavirus hat uns jede Menge Absagen beschert – nicht zuletzt auch an unsere eigenen, grundlegend menschlichen Bedürfnisse. Wir ermahnen unsere Kinder im Park, mit anderen doch bitte nicht körpernah zu spielen – und fühlen uns dabei wie Gouvernanten. Wir unterdrücken beim Treffen mit Freunden, oder gar mit der Oma, den Impuls, unser Gegenüber zu umarmen – obwohl uns das Bauchgefühl genau dazu rät, um die emotionale Kluft durch das fortgesetzte Abstandhalten endlich zu durchbrechen.

Wir canceln geplante Projekte und Veranstaltungen, verschieben Hochzeiten und Geburtstagsfeste auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Hinzu kommt bei vielen Angst. Doch dies zuzugeben fällt oftmals schwer. Wer älter ist, fürchtet eher eine Coronavirus-Erkrankung mit schwerem Verlauf und Spätfolgen. Wer im Arbeitsleben steht, sieht sich häufig von Einkommenseinbußen, Jobverlust und sozialem Abstieg bedroht. Für viele ist das schon jetzt Realität.

Ein Ende dieses Zustands ist derzeit nicht in Sicht: Sieben Monate hält die gesellschaftliche und zwischenmenschliche Ausnahmesituation bereits an. Sie wird uns wohl noch länger prägen, viele Wochen, wenn nicht gar Monate.

Zunächst gilt es, einen langen, kalten, infektionsreichen Herbst und Winter durchzustehen – doch auch die für danach emphatisch angekündigten, aber noch nicht anwendungsfertigen Impfungen werden die sozialen, ökonomischen und psychischen Verwerfungen nicht rasch beseitigen. Wenn es gutgeht, werden sie durch die Impfung schrittweise abgemildert.

Was den Mut sinken lässt

All das macht müde, lässt den Mut sinken und Verzweiflung aufkommen. Es belastet psychisch und kann krank machen. In einer repräsentativen Befragung des Meinungsforschungsinstituts Gallup Mitte Mai gab ein Fünftel aller Befragten an, aufgrund der Krise psychisch belastet zu sein. 40 Prozent äußerten Zukunftsängste, 20 Prozent gaben an, dass sie nicht wagten, das Haus zu verlassen.

"Wir haben inzwischen alle einen Verhaltensfilter eingebaut. Der kostet uns viel Energie", sagt die Psychologin Beate Wimmer-Puchinger. Tatsächlich erscheinen Handlungen, die noch vor einem Jahr als Ausdruck innerer Zwänge gegolten hätten, nun vernünftig. Morgens stecken wir wie selbstverständlich Maske und Desinfektionsspray ein, in Öffis oder Geschäften bedecken wir Mund und Nase.

Wir sind innerlich angespannt, weil wir die Kontrolle übers Abstandhalten nicht verlieren wollen, und versuchen, uns zu merken, in welchen Situationen wir anderen zu nah gekommen sind. Der deutsche Virologe Christian Drosten empfiehlt gar das Führen eines Cluster-Tagebuchs, um im Fall einer Infektion zurückverfolgen zu können, wo man einem Superspreader begegnet sein könnte.

Zusätzlich erschwerend bei alldem sei "das Hü und Hott der vielen einander widersprechenden Informationen, die auf uns einprasseln", sagt Wimmer-Puchinger. Damit meint sie nicht nur die derzeit im Mehrtagesrhythmus verschärften behördlichen Einschränkungen. Verwirrend und letztlich demotivierend für das Einhalten der angesagten AHA-Regeln – Abstand halten, auf Hygiene achten, Alltagsmaske tragen – seien auch die offenen Kontroversen der an der Pandemiebekämpfung beteiligten Wissenschafter.

Dass höchst existenz- und alltagsrelevante Dinge nach wie vor umstritten seien, verunsichere sehr – sei es die Kontroverse um die Frage, ob von Schulkindern eine größere Infektionsgefahr ausgehe, oder jene, ob Menschen, die eine Covid-19-Infektion überstanden haben, danach längerfristig immun gegen den Erreger sind.

Erfolgserlebnisse wären wichtig

Um sich gesundheitsbewusst zu verhalten, brauche der Mensch Motivation sowie Einsicht in die Notwendigkeit einer Verhaltensänderung, sagt Wimmer-Puchinger auf Basis ihrer Erfahrungen, etwa mit der Raucherentwöhnung. Er oder sie müsse Hoffnung auf Verbesserung der eigenen Situation und das Gefühl haben, Kontrolle über das eigene Leben zu besitzen. Nicht zuletzt lebe der Wille, es künftig besser zu machen, von konkreten Erfolgserlebnissen.

Nur wenig davon trifft auf Corona-Prävention zu. Von Hoffnung, Eigenkontrolle und Erfolgserlebnissen ist keine Rede – und in Zeiten stark steigender Infektionszahlen schon gar nicht. Vielmehr wird von Bedrohung und Mangel an Alternativen sowie strikter Regelbefolgung gesprochen. Zwar, sagt die Psychologin, sei den meisten Menschen der Ernst der Situation klar. Doch eine nicht unbedeutende Minderheit ziehe sich aus diesem Diskurs zurück.

Es wird vorbeigehen

Weniger ausweglos sieht der Philosoph Konrad Liessmann die Corona-Lage. "Es gibt auf der Welt nichts, was nicht ambivalent wäre", sagt er. Das gelte für das Maskentragen ebenso wie für die Abstandsregeln: "Als in den 1960er-Jahren die Gurtenpflicht in Autos eingeführt wurde, schwor mein Vater, sich diese Unzumutbarkeit nie und nimmer gefallen zu lassen. Wenige Jahre später verwendete er sie dann."

Auch gebe es Kulturen, etwa die japanische, die das Abstandhalten zur Regel erhoben haben: "Diese Gesellschaften funktionieren trotzdem."

Die Situation sei belastend und ermüdend, das sei klar. Doch sie werde vorbeigehen – und weit weniger Erinnerungsspuren hinterlassen, als man derzeit glaube. Das historische Gedächtnis an große Seuchen, wie etwa die Spanische Grippe, sei überraschend gering. "Menschen erinnern sich an die Taten anderer Menschen, an Politik – weniger an Viren und sonstige Akte der Natur", sagt Liessmann. (Irene Brickner, 3.10.2020)