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Rauch steigt über jenem Gebiet auf, das laut dem armenischen Außenministerium durch aserbaidschanische Streitkräfte in Stepanakert unter Beschuss genommen wurde.

Foto: Areg Balayan/ArmGov/PAN Photo Handout via Reuters

Armenien hat wegen des sich verschärfenden Konflikts um die Region Bergkarabach seine Streitkräfte in volle Gefechtsbereitschaft versetzt, teilte das Verteidigungsministerium am Freitag mit. Die Mobilisierung der Armee ist in vollem Gange: Das Militär zieht Soldaten und Material zusammen und beruft Reservisten ein, darunter auch Aschot Paschinjan, den Sohn des Premierminister Nikol Paschinjan.

Die Frontberichte sind widersprüchlich, doch scheint die Lage für Eriwan nicht besonders günstig zu sein. Am Freitag nahmen aserbaidschanische Truppen die Hauptstadt der mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region Bergkarabach unter Beschuss. Arzun Owanesjan, ein Sprecher des armenischen Verteidigungsministeriums, sprach von vielen zivilen Opfern und massiven Schäden an der Infrastruktur der 50.000 Einwohner zählenden Stadt.

Konflikt droht zum Krieg werden

Videoaufnahmen zeigen zudem, wie ein Artilleriegeschoß auf der Brücke über den Fluss Akari explodiert, die Armenien und die international nicht anerkannte Republik Bergkarabach verbindet. Der Konflikt um die Region droht damit in einen vollwertigen Krieg zwischen den beiden ehemaligen Sowjetrepubliken auszuarten.

Hikmet Hajiyev, Berater des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew, dementierte zwar in einer Videokonferenz, dass die aserbaidschanischen Streitkräfte Zivilisten unter Beschuss nähmen, sprach aber von einer "sehr sorgfältigen Zielwahl". Zugleich bestätigte er, dass auch Punkte in Armenien selbst unter Feuer genommen würden, "wenn Armenien nicht aufhört, von seinem Territorium aus Dörfer in Aserbaidschan zu beschießen".

Deokkupation als Ziel

Laut Hajiyev hat das aserbaidschanische Militär sowohl im Norden als auch im Süden der Front einige wichtige strategische Höhen erobert, von denen aus die Offensive weitergeführt werde. Ziel der Angriffe sei die endgültige "Deokkupation" aserbaidschanischen Territoriums, betonte der Spitzenbeamte aus Baku.

Schon am Donnerstag hatten die USA, Frankreich und Russland beide Konfliktparteien zu einer Beendigung der Kampfhandlungen aufgefordert. In einer gemeinsamen Erklärung von US-Präsident Donald Trump, seinem französischen Amtskollegen Emmanuel Macron und Kreml-Chef Wladimir Putin heißt es zudem: "Wir rufen die Staatschefs von Armenien und Aserbaidschan dazu auf, sich unverzüglich und ohne Vorbedingungen zur Wiederaufnahme der Verhandlungen über die Lösung des Konflikts unter der Ägide der Minsker Gruppe der OSZE zu verpflichten."

Keine Verhandlungen geplant

Während das Außenministerium in Eriwan daraufhin am Freitag seine Bereitschaft zu neuen Gesprächen erklärte, lehnt Baku bisher Waffenstillstandsverhandlungen ab. Hajiyev begründete dies damit, dass es in der Vergangenheit immer wieder solche Vereinbarungen gab, die Armenien dann gebrochen habe. "Daher müssen wir in diesem Moment sehr bestimmt sein, das Momentum nutzen und den Okkupationszustand ändern", sagte Hajiyev.

Das Selbstbewusstsein Aserbaidschans speist sich nicht nur aus den offensichtlichen demografischen, finanziellen und damit militärischen Vorteilen, die das Land in den vergangenen Jahren gegenüber seinem Nachbarn gesammelt hat, sondern auch aus der offenen Unterstützung der Türkei.

Hilfe aus Ankara

Der türkische Präsident Tayyip Erdoğan erklärte am Freitag, er hoffe, Aserbaidschan setze seine Offensive in Bergkarabach fort. Das Land habe bereits ein großes Gebiet erobert. "Ich hoffe, es setzt seinen Kampf fort, bis es alle seine Gebiete in Karabach befreit hat", sagte er. Ankara bot Baku zudem militärische Hilfe an, sollte dies nötig.

Nach Angaben von Aktivisten sind mindestens 28 pro-türkische, syrische Kämpfer getötet worden. Sie gehörten zu insgesamt rund 850 Kämpfern, die Ankara zur Unterstützung der aserbaidschanischen Truppen in die Region entsandt habe, wie die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Freitag mitteilten.

Putin äußerte sich "ernsthaft besorgt" über die Berichte über pro-türkische Kämpfer aus Syrien in der Region, sein französischer Amtskollege Emmanuel Macron forderte eine Erklärung von Ankara.

Angehörige von drei Kämpfern bestätigten AFP deren Tod. In Online-Medien in Nordsyrien tauchten Bilder von vier toten Kämpfern auf. Armenien hatte der Türkei zuvor vorgeworfen, Kämpfer aus Syrien in die Region zu bringen. Aserbaidschan und die Türkei bestritten das. Armenien warf Aserbaidschan zudem vor, "Streumunition" einzusetzen, die völkerrechtlich verboten ist.

These aus Moskau

Unter diesen Umständen wird das Handeln Russlands, das sich als weitere Ordnungsmacht in der Region versteht und eine Militärbasis in Armenien unterhält, immer wichtiger. Doch Moskau, das derzeit mittel- oder unmittelbar in militärische Konflikte in der Ukraine, Syrien und Libyen verwickelt ist und zudem noch eine Militärreserve für den ins Wanken geratenen belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko bereithält, scheut vor der Eröffnung einer weiteren Front zurück.

Offiziell positioniert sich Russland außerhalb der Deeskalationsforderungen nicht. Umso brisanter ist eine These des kremlnahen Politologen Sergej Markow, der versicherte, Russland könne Armenien dazu bewegen, seine Soldaten aus der Pufferzone um Bergkarabach abzuziehen, wenn Aserbaidschan und die Türkei im Gegenzug ihre Wirtschaftsblockade gegenüber dem Kaukasusstaat beendeten.

Angesichts der Erbitterung, die auf beiden Seiten des Konflikts herrscht, sind die Erfolgschancen eines Vorschlags zum teilweisen Gebietsverzicht unklar. Allerdings verdeutlicht Markows Gedankenspiel, dass Russland keine Ambitionen hegt, Armenien die dort erhoffte Hilfe zu gewähren. (André Ballin, 2.10.2020)