Der Filmemacher Tarkovsky trifft auf virtuelle Sehnsuchtserfüller: "Tarkovsky – Der 8. Film" ist Musiktheater, das sich sehr zukünftig gibt.
Foto: Barbara Pállfy

Man mag ihn sofort, den schmalen grauhaarigen Mann auf der Suche nach ein bisschen Liebe. Die kellertiefe Stimme des Einzelgängers ist rau und weich zugleich, und singen kann er auch: Johnny Cash und Tom Waits grüßen von der Bar. Wer ist der Typ vor dem schwarzen Spiegel? Der letzte Cowboy, der sich ins Wuk verritten hat?

Nein, es ist Andrej Tarkovsky. Thomas Desi (Stücktext, Vokalkomposition und Inszenierung) stellt in seinem Musiktheaterwerk Tarkovsky – Der 8. Film den legendären russischen Regisseur und dessen (vergebliches) Ringen um die Fortsetzung seines Œuvres ins Handlungszentrum. Die Substanz des Librettos ist aber ziemlich dünn. Tarkovsky hadert mehrfach mit der Prophezeiung, er würde nur sieben Filme drehen; ein geheimnisvoller Mann namens Boris gibt einen achten Streifen in Auftrag. Tarkovskys Ehefrau Mischa will die Hauptrolle in seinem nächsten Film und macht auch sonst nur Stress.

"Lonesome Cowboy"

Deutlich mehr als die letzten Wickel der Titelfigur fasziniert die zweite Ebene, die Desi ins Libretto eingebaut hat. Da gibt es einen Chatbot, mit dem sich der "lonesome cowboy" immer wieder unterhält. Gibt es da draußen noch Menschen, oder sind alles nur Projektionen, Sehnsüchte unserer darbenden Herzen? Kann Tarkovsky dem Sprechcomputer vielleicht sogar mehr trauen als seinen Freunden, weil eine Maschine keine Erwartungen hat?

Der Chatbot spricht mit einer Alexa-sanften Stimme, die vom estnischen Elektrokollektiv Nihe mit sphärischen Klängen umhüllt wird. Ein unschuldig-weißer Roboterarm der Firma Kuka vollführt dazu Bewegungen von serviler Eleganz (Bühnenbild, Video, Robotik: Peter Koger). So wie der Junge David in Steven Spielbergs Film A.I. – Artificial Intelligence die blaue Fee finden will, die ihn erlösen und zum Menschen machen soll, so träumt Tarkovsky von einer engelsgleichen Frau mit einem blauen Band im Haar.

Ach, es ist alles so wohltuend an dieser Produktion. Gilbert Handler ist als Tarkovsky ein berührender Sinn- und Sinnlichkeitssuchender. Beruhigend der A-cappella-Gesang des auf einen semitransparenten Spiegel projizierten Boris (Martin Achrainer). Sogar die multiplizierte Mischa (Gotho Griesmeier) keppelt im Quartett auf eine leise Weise. Der reduzierte Einsatz von Musik, Text, Handlung und Personal wirkt so kathartisch wie eine Kur.

Perfekt für pandemische Zeiten

Tarkovsky – Der 8. Film ist ein Musiktheaterstück, das ein großes Zukunftsthema behandelt: künstliche Intelligenz und virtuelle Realität. Und es ist ein Musiktheaterstück, das auf gespenstisch visionäre Weise in unsere pandemische Gegenwart passt: ein Werk mit nur einem Darsteller, zugespielten Videoprojektionen und einer Handvoll Musiker.

Der Protagonist erscheint als ein Kompagnon jener alten weißen Männer, die mit dieser Welt zunehmend fremdeln und nur noch als liebenswerte Skurrilität erscheinen: Abteilung sympathische Dinosaurier à la Helge Schneider oder Harald Martenstein. Lebt es sich in der virtuellen Realität möglicherweise behaglicher? Dann wollen wir da auch hin – falls wir nicht gerade ein wundervolles Stück Musiktheater von Thomas Desi live miterleben. Denn wohltuender als diese 60 Minuten des leisen Eskapismus kann zeitgenössisches Musiktheater kaum sein. (Stefan Ender, 4.10.2020)