Der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble (links) verhandelte 1990 mit DDR-Staatssekretär Günther Krause den Einigungsvertrag. Schäuble ist bis heute in der Politik, Krause ging ins RTL-Dschungelcamp.

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STANDARD: Vor 30 Jahren, am 3. Oktober 1990, sahen Sie vom Reichstag aus auf die jubelnden Menschen, die die Wiedervereinigung feierten. Was ging damals in Ihnen vor?

Wolfgang Schäuble: Als um null Uhr die Wiedervereinigung vollzogen war, verspürte ich große Erleichterung. Die Wochen und Monate zuvor waren ungeheuer angespannt. Ich hatte damals als Innenminister nicht nur den Einheitsvertrag auszuverhandeln, sondern auch mit einer riesigen Zahl von Übersiedlern zu tun. Nach dem Mauerfall verließen ja täglich 10.000 DDR-Bürger ihr Land.

STANDARD: Was waren die größten innenpolitischen Hindernisse auf dem Weg zur Einheit?

Schäuble: Die Menschen in der Bundesrepublik waren zwar zu finanziellen Beiträgen bereit. Aber die Bereitschaft zu Veränderungen im Westen war sehr gering. Das merkte man bei der Hauptstadtdebatte, als zunächst viele, entgegen jahrzehntelangen Beteuerungen, den Umzug von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin nicht mehr wollten. Beschämend fand ich auch, wie mühsam die Anerkennung von in der DDR erworbenen Qualifikationen und Schulabschlüssen verlief. Da mangelte es an Verständnis.

STANDARD: Wie kam es genau zu dem historischen Datum 3. Oktober?

Schäuble: Das war fast banal. Die Außenminister der KSZE-Staaten sollten noch formal über das Ergebnis der am 12. September in Moskau abgeschlossenen 2+4-Verhandlungen (BRD, DDR, USA, Großbritannien, Frankreich, Sowjetunion, Anm.) informiert werden. Diese Konferenz war für den 2. Oktober geplant. Also nahmen wir den 3. Oktober. Wir wollten es so schnell wie möglich machen.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt, in der Zeit hätten Sie 26 Stunden täglich gearbeitet. Gab es irgendwann die Sorge, es könnte nicht klappen?

Schäuble: Vielleicht waren es auch 27 oder 28 Stunden ... (lacht). Aber nein, ans Scheitern denkt man nicht. Man konzentriert sich darauf, das zu schaffen. Wir wollten die Einheit unter allen Umständen. Und dann war es der freudigste Moment der deutschen Geschichte. Wir erlebten seit dem Mauerfall am 9. November 1989 einen Rausch.

STANDARD: Am 3. Oktober 1990 hielt der Rausch noch an.

Schäuble: Ja, das war eine ganz besondere Stimmung am Berliner Reichstag. Es waren eine Million Menschen da. Aber sie feierten nicht laut oder grölend, sie haben sich einfach gemeinsam gefreut. Wir können auf den Mut unserer Landsleute zur friedlichen Revolution stolz sein. Das gab es in der deutschen Geschichte nicht so oft.

STANDARD: Würden Sie heute etwas anders machen?

Schäuble: Man kann diese hypothetische Frage nicht beantworten, sondern die Entscheidungen von damals nur aus der Situation des Jahres 89/90 erklären.

STANDARD: Ein Vorwurf lautet: Die Einheit kam zu schnell, dem Osten wurde das Westsystem übergestülpt.

Schäuble: Jenen, die meinen, wir hätten uns die DDR zu schnell "einverleibt" und sie lieber reformieren sollen, kann ich nur sagen: Ich weiß, wie groß der Druck war. Die Leute riefen: "Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr." Jeden Tag kehrten Massen dem Land den Rücken.

STANDARD: Viele Ostdeutsche fühlen sich jedoch als Bürger zweiter Klasse. Was kann man dagegen tun?

Schäuble: Wenig. Bei vielen Menschen, die jetzt zwischen 60 und 70 Jahre alt sind, wird das auch so bleiben. Die hatten ein glückliches Leben in der DDR, nur das politische System dort hat nicht hingehauen. Als ihr Land dann zusammenbrach, ist vieles für sie weggefallen, und solche einschneidenden Veränderungen hinterlassen Spuren. Doch Deutschland ist längst nicht mehr gespalten. Die Jungen finden die Frage, wo jemand herkommt, mittlerweile uninteressant.

STANDARD: Aber es gibt eine Partei, die spaltet. Die AfD ...

Schäuble: Jetzt fragt mich ausgerechnet eine Österreicherin zur AfD.

STANDARD: Natürlich.

Schäuble: Ich habe lange geglaubt, populistische Bewegungen, die wir in allen europäischen Ländern haben, würden uns in Deutschland erspart bleiben. Ich lag nicht richtig, wir sind in diesem Punkt offenbar nicht anders als andere Länder. Immerhin ist der Stimmanteil für rechtspopulistische Parteien geringer als anderswo in Europa.

STANDARD: Bei einer Corona-Demo versuchten "Reichsbürger" kürzlich in den Reichstag zu gelangen. War das eine Schrecksekunde für Sie?

Schäuble: Erkennbar rechtsradikale Symbole vor dem Reichstagsgebäude gehen unter keinen Umständen. Das ist schändlich. Aber in Gefahr war das Parlament nicht. Die meisten, die da auf den Treppen waren, haben eher Selfies gemacht.

STANDARD: Braucht es mehr Schutz für das deutsche Parlament?

Schäuble: Die Idee war immer: Der Bundestag ist ein offenes Parlament. Das Reichstagsgebäude ist nicht umzäunt und bis an die Türen öffentliche Verkehrsfläche. Natürlich gibt es immer wirre Demonstranten, aber das Grundrecht auf Demonstration ist ein hohes Gut. Die übergroße Mehrheit der Deutschen hat in dieser Pandemie ohnehin wachsendes Vertrauen in die verantwortlichen Politiker, weil wir dank unseres Gesundheitssystems die Krise bislang jedenfalls besser als andere Länder bewältigen konnten.

STANDARD: Apropos Corona: Deutschland macht so viele Schulden wie nie. Die von Ihnen als Finanzminister erreichte "schwarze Null" wurde hinweggefegt. Schmerzt Sie das?

Schäuble: Es ist jetzt eine völlig andere Situation, und es wäre albern, in dieser außergewöhnlichen Lage weiter zu sparen. Es entspricht der Lehre von John Maynard Keynes, dass der Staat in der Krise mit allen Mitteln versucht, die Wirtschaft zu beleben.

Allerdings habe ich schon nach der Finanzkrise darauf hingewiesen, dass man die hohen Schulden wieder zurückfahren muss. Da wünsche ich meinen Nachfolgern viel Vergnügen, ich weiß, wovon ich spreche: Seit ich 2009 Finanzminister wurde, war die Haushaltskonsolidierung ein langer, schwieriger Weg. Wenn nicht so stringent Finanzpolitik betrieben worden wäre, stünde Deutschland heute finanziell nicht so gut da und hätte weniger politischen Handlungsspielraum. (Birgit Baumann, 3.10.2020)