Herbert Kickl kennt die Melodie. Er steigt auf die Heurigenbank, schaut zu den vielen Gästen im Festzelt und dirigiert. "Wir sind eine große Familie, wir gehören zusammen", singt die John-Otti-Band. Es ist das Lied, bei dem bei FPÖ-Veranstaltungen wie hier in Wien-Simmering Ekstase aufkommt.

Ja, der blaue Klassiker heißt Immer wieder Österreich, aber Wir sind eine große Familie, im Original von Peter Alexander, hat mehr Schwung, ist fröhlicher – und hat den treffenderen Text. Die Fans der Freiheitlichen singen ihn lauthals mit: "Wir gehören zusammen, hier ist keiner allein".

Herbert Kickl, Dirigent der FPÖ-Fans.
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Es ist eine Lüge. Hier sind sehr viele allein. Mehr als bei anderen Parteien: Einsame Menschen stimmen eher für populistische Parteien als solche mit einem intakten sozialen Netz.

Das Phänomen ist bekannt, und es gewinnt durch die Krise an Dringlichkeit: Die Einsamkeit wächst, immer mehr Menschen leben allein. Wer sich oft allein fühlt, tendiert eher dazu, populistische Parteien zu wählen, wie aktuelle Studien zeigen. Doch das ließ die Menschen nicht in Massen zu rechten Parteien laufen, zumindest nicht in Österreich. Und zwar nicht nur, weil die FPÖ derzeit schlecht in Form ist – sondern auch, weil Österreich auf ein soziales Gefüge bauen konnte, das die Folgen von Einsamkeit eindämmte.

Was macht Einsamkeit mit unserer Politik? Sechs Thesen.

These 1: Einsamkeit ist ein Nährboden für Populismus

Wer wählt Populisten? Es sind Menschen, die benachteiligt werden – oder zumindest das Gefühl haben, sie wären anderen gegenüber schlechtergestellt. Das ist kein politisch unkorrektes Vorurteil, sondern gut erforscht: Die Politikwissenschafterin Julia Partheymüller von der Uni Wien erklärt das Phänomen der "relativen Deprivation" so: "Aus irgendeinem Grund haben diese Personen das Gefühl, sie bekommen nicht ihren gerechten Anteil, sie sind irgendwie benachteiligt, werden nicht fair behandelt in irgendeiner Art." Das kann stimmen – oder eingebildet sein.

Einsamkeit verstärkt diesen Effekt. Allein schon deshalb, weil Freunde und Bekannte als Korrektiv zum Großteil ausfallen. Und wer sich einsam fühlt, dem geht es schlechter, was das Gefühl der eigenen Diskriminierung noch verstärken kann.

Nun ist es kein Zufall, dass Herbert Kickl seine Fans "Hier ist keiner allein" singen lässt: Populistische Parteien wie die FPÖ wissen natürlich, wer für ihre Parolen empfänglich ist. Dem Publikum der Populisten geht es schlecht, "und dann kommt jemand des Weges und erklärt ihnen, wer daran Schuld ist", sagt Partheymüller: "Es muss ein Sündenbock gefunden werden." Ob das nun Ausländer, Politiker, Frauen oder Milliardäre wie Bill Gates sind, ist dann nur noch eine Sache der persönlichen Präferenz.

These 2: Der Lockdown hat Leute einsamer gemacht – kurzfristig

Schon vor Corona war Einsamkeit ein wachsendes Phänomen. Die Autorin Noreena Hertz beschreibt das in ihrem kürzlich erschienenen Buch The Lonely Century (erschienen bei Sceptre Books): Einsamkeit hat viele Nebenwirkungen, nicht zuletzt gesundheitliche. "Das einsame Jahrhundert hat nicht im ersten Quartal 2020 begonnen. Als Covid-19 zugeschlagen hat, haben sich viele von uns bereits einsam gefühlt, einen großen Teil der Zeit isoliert und atomisiert", schreibt Hertz.

Bei Protesten in Deutschland treffen sich regelmäßig Neonazis, Reichsbürger – und solche, die bis vor kurzem noch als "Mitte der Gesellschaft" gegolten hätten.
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Die Panelstudie der Uni Wien zeigt, dass die gefühlte Einsamkeit in den ersten Wochen des Lockdowns zugenommen hat: 18 Prozent der Befragten fühlten sich Ende April täglich, beinahe täglich oder mehrmals pro Woche einsam. Doch über den Sommer gingen diese Zahlen zurück, Anfang Juni waren es nur noch elf Prozent.

These 3: Ein gesundes soziales Gefüge übersteht so eine Phase

Droht eine Welle des Populismus? Einiges spricht dagegen. Vor allem die nackten Zahlen: Selten ist die FPÖ in Umfragen so schlecht dagestanden wie jetzt, Heinz-Christian Straches Liste muss um den Einzug in den Wiener Gemeinderat bangen. Zwar agiert auch die ÖVP oft populistisch, doch in der Corona-Krise gab sich die Kanzlerpartei vor allem staatstragend.

Die Politologin Partheymüller ist überhaupt skeptisch, ob man von Einsamkeitseffekten der vergangenen Jahrzehnte auf den Ausnahmezustand im Frühling schließen kann: "Wir müssen zwischen situativ bedingter Einsamkeit und einer strukturellen Einsamkeit differenzieren", sagt sie. Dass die Corona-Krise zu einem Populismus-Boom geführt hätte, das geben die Daten einfach nicht her.

Die Wissenschafterin gibt auch zu bedenken, dass der soziale Zusammenhalt in Österreich und anderen europäischen Ländern intakt ist – da könne so eine Krise sogar eher zusammenschweißen als auseinanderdividieren. In den USA, teils auch in Großbritannien, schaue das schon anders aus. "Wenn gesellschaftlicher Zusammenhalt in einem Land ohnehin schon ein Problem ist, wird auch so eine Krise nicht helfen", sagt Partheymüller.

Wähler von Populisten fühlen sich ausgeschlossen. In einer Gesellschaft, die tendenziell zusammenhält, haben es Rechte schwer.

These 4: Österreich hat gute Voraussetzungen

Es war aber nicht nur der zwischenmenschliche Zusammenhalt, der ein Aufbäumen von rechten Populisten (linke gibt es hierzulande kaum) verhindert hat, sondern: ein guter Sozialstaat. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise wurden zu einem guten Teil abgefedert. Die Wiener Politologin Birgit Sauer schildert Interviews mit Menschen in prekären Arbeitssituationen, geführt vor dem Lockdown: Da überwog die Kritik am Staat, der zu viele Steuern einhebe und das Geld an die Falschen verteile.

Dieselben Leute zeigten sich nach dem Frühling froh über das starke soziale Netz in Österreich. "Da haben schon viele gemerkt, dass der österreichische Sozialstaat und auch das Gesundheitssystem robust sind", sagt Sauer. "Deshalb hat auch diese soziale Integration funktioniert."

These 5: Verschwörungstheorien haben trotzdem Aufwind

Ist also alles gut? Bei weitem nicht. Dass es keine Massenbewegung hin zu Populisten gegeben hat, heißt noch lange nicht, dass es kein Problem am politischen Rand gibt. Bei vielen Menschen endet die Suche nach einem Sündenbock nämlich in Verschwörungstheorien. Sie sind mittlerweile hinlänglich bekannt: Bill Gates, George Soros, Bilderberger. Mit dem Abdriften in die Welt der obskuren Verschwörungstheorien treiben die Betroffenen den von ihnen wahrgenommenen Ausschluss aus der Gesellschaft weiter voran. Bei Protesten in Deutschland treffen sich regelmäßig Neonazis, Reichsbürger – und solche, die bis vor kurzem noch als "Mitte der Gesellschaft" gegolten hätten.

Dass es keine Massenbewegung hin zu Populisten gegeben hat, heißt noch lange nicht, dass es kein Problem am politischen Rand gibt.
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Auch wenn es sich dabei zahlenmäßig um eine verschwindend scheinende Minderheit handelt, stellen sie ein gefährliches Randphänomen dar. Wer sich einer Gesellschaft nicht mehr zugehörig fühlt, hat auch kein Interesse, sich an ihre Regeln zu halten.

These 6: Im Herbst und Winter könnte alles anders kommen

Österreich ist also, zumindest was populistische Strömungen betrifft, bisher gut durch die Krise gekommen. Das heißt aber noch nicht, dass es so bleibt.

Wie der aktuelle Demokratiebefund der "Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform" zeigt, finden 56 Prozent der Befragten, dass die Regierung heuer mehr Probleme erfolgreich gelöst hat als im Jahr 2019. Das Vertrauen in die Politik ist vor allem am Anfang der Corona-Krise gestiegen. Vorläufig.

Denn die Politik arbeitet ja selbst nicht immer daran, das Vertrauen der Bevölkerung zu fördern: Hin und Her bei der Corona-Ampel, Schwierigkeiten beim Contact-Tracing, Verunsicherung an den Schulen – solche Muster geben populistischen Strategien neuen Halt, die die Bevölkerung gegen die politische Elite aufbringen wollen. In genau diese Richtung arbeite die FPÖ gerade, sagt Birgit Sauer: "Dann ist das ‚Wir‘ das Volk, das von den Eliten falsch geführt wurde und jetzt Masken tragen muss."

Dunkelheit und Kälte

Und wie wird das sein, wenn die harten Maßnahmen vom April sich nicht als einmalige Geschichte herausstellen sollten, sondern im Herbst wiederholt werden? Und zwar dann, wenn es schon nachmittags dunkel wird und die Temperaturen sinken? Diese Dinge haben reale Auswirkungen auf unsere Stimmung. Wer sich bisher schon eher einsam gefühlt hat, kann das in den kommenden Monaten noch stärker so empfinden. Dass diese Personen sich im Frühling nicht sehr anfällig für populistische Parolen gezeigt haben, heißt nicht, dass das auch für den Winter gilt.

"Wir befinden uns ja nicht nur in einer Gesundheitskrise, sondern auch in einer Wirtschaftskrise", gibt Partheymüller zu bedenken. Und bei solchen sei der Zusammenhang mit dem Aufstieg populistischer Parteien sehr deutlich.

Der erste ökonomische Einbruch im April wurde durch staatliche Eingriffe – etwa die Kurzarbeit – abgefedert, auch wenn immer noch etliche ihre Jobs verloren haben. Früher oder später werden aber immer mehr Menschen die verzögerten Auswirkungen spüren.

Winter der Einsamkeit verhindern

Der erste Winter mit dem Coronavirus ist für Politiker und auch für Populisten Neuland. Doch auch auf unbekanntem Terrain können bekannte Strategien funktionieren – und zwar auf beiden Seiten. Für die Populisten bedeutet das, Abgehängten und Alleingelassenen eine Heimat zu versprechen und sie von anderen zu isolieren.

Und für jene, die das verhindern wollen, besteht der einzige Weg darin, die wirtschaftlichen Folgen weiter abzufedern und soziale Strukturen zu stärken – also einen Winter der Einsamkeit zu verhindern. (Sebastian Fellner, 3.10.2020)