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Den Jüngling in Caspar David Friedrichs "Wanderer über dem Nebelmeer" freute die Stille durchaus. So geht es nicht allen Jungen.

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Verpassen wir Jungen gerade, was das Leben lebenswert macht? Oder befreien uns Maßnahmen wie Lockdowns und ein reduziertes Kultur-, Sport- und Eventangebot davon, auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen zu müssen? Befördert die Pandemie die "Fear of missing out" (Fomo), die Angst, etwas zu verpassen? Oder lässt sich auch die "Joy of missing out" (Jomo), die Freude am Nicht-dabei-Sein, aus ihr ziehen?

FOMO

Als im März der Lockdown kam, war das anfangs noch wie ein kleines Abenteuer. Zu Hause bleiben, ein paar Wochen Ruhe geben – wie schwer kann das sein? Es galt, sich einmal keine Gedanken darüber zu machen: Geht man abends zur Geburtstagsparty der Nichte der besten Freundin, ins Kino oder besucht man doch das Konzert des Amateurchors, in dem der Bekannte singt?

Fear of missing out (Fomo) haben Soziologen das Problem getauft, wenn der moderne Wohlstandsmensch vor lauter Optionen keine echten Entscheidung mehr treffen kann. Weil er ständig von dem Gefühl begleitet wird, dass es woanders eine bessere Party gegeben hätte. Wenn er durch einen intensiv gefühlten Erlebnisdruck nicht mehr Nein sagen kann, weil die Angst, dass man die Party des Lebens verpassen könnte, zu groß ist. Seit Corona muss man diese Angst nicht mehr haben. Denn es gab schlicht nichts zu verpassen – zumindest analog. Abende zu Hause standen an, ohne irgendeine Wahl treffen zu müssen. Das bietet doch Chancen?

Bei vielen, auch bei mir, kam der Moment, an dem die real gewordene soziale Isolation ins Bewusstsein rückte. Zum Beispiel, als ich auf dem Weg zum Supermarkt zufällig einen Bekannten traf. Plötzlich standen wir da, mit zwei Metern Abstand – und quatschten von Auge zu Auge – im echten Leben. Diese alltäglichen, unscheinbaren Momente des zufälligen Über-den-Weg-Laufens entpuppten sich als jene, die bewusst machten: Man will die Freunde wieder treffen, und zwar nicht über Zoom, sondern von Angesicht zu Angesicht. Man möchte wieder all das erleben, was nur die nichtdigitale Welt zu vermitteln im Stande ist. Bei Besprechungen im Job möchte man die Kollegen sehen, nicht nur über einen Bildschirm.

Es müssen gar nicht die extremen Fälle von Isolation mit all ihren psychischen Folgen sein. Schwer vorstellbar, wie der introvertierte Single in seiner 30-Quadratmeter-Garçonnière sein Homeoffice ausgestaltet. Die Erforschung darüber, wie sich der Lockdown auf Leute mit psychischer Vorgeschichte auswirkt, hat gerade erst angefangen.

Man muss aber nicht in Depressionen und Einsamkeit versinken, um zu merken: Im Lockdown geht viel verloren. Während der Pandemie wird aus der theoretischen Angst, etwas zu verpassen, konkrete Realität.

JOMO

Es ist ein großes Privileg, seine Leidenschaft zum Beruf machen zu dürfen. In meinem Fall Kultur. Ich liebe es, auf Konzerte zu gehen, ins Kino, zu Lesungen, ins Theater. Ich stehe gern mit einem Glas Wein auf Ausstellungseröffnungen herum, schaue mir Kunst wie Leute an und halte sogar die eine oder andere Performance aus.

Die andere Seite: So schnell kann man gar nicht schauen, dass man pro Abend gleich auf zwei bis drei Events vorbeihoppen "muss", der Smalltalk dabei immer belangloser wird, man von den gezeigten Inhalten kaum noch etwas mitbekommt. Was einst Freude bereitet hat, neue Gedanken befördert und Welten eröffnet hat, wird zu einer mühsamen To-do-Liste, die man abarbeiten muss.

Kann man sich rausnehmen? Sich einfach abends ein paar Monate lang ins Bett kuscheln? Klar. Das Gefühl, etwas zu verpassen, Fomo hätte ich dabei persönlich nie gehabt. Doch fordert das Umfeld konstante Anwesenheit ein. Das Angebot ist groß, es nicht auszuschöpfen wäre Frevel. Unverständlich scheint für viele zu sein, wie jemandem der vierte Abendtermin in der Woche einfach keinen Spaß mehr machen kann.

Als der Lockdown kam, kehrte verbindliche Ruhe ein. Während andere Panik schoben, womit sie sich jetzt die Zeit vertreiben sollen, zelebrierte ich Harald Juhnkes Definition von Glück: "Keine Termine und leicht einen sitzen." Verpasst werden konnte endlich nichts mehr, weil es nichts mehr zu verpassen gab.

Sie packte mich, diese eigenartige Form von Zufriedenheit, die Joy of missing out. Endlich dolce far niente! Ich konnte meiner Aufmerksamkeitsspanne beim Länger-Werden zuschauen, in Ruhe lesen, mit Freunden im kleinen Kreis diskutieren und plaudern, ohne ständig an den nächsten Termin denken zu müssen.

Keine Menschenmassen, durch die man sich boxen muss, um doch noch einen Blick auf die Bühne zu erhaschen, kein Dabeisein um des Dabeiseins willen.

Das soll nicht heißen, dass nicht auch ich mich freute, als es schrittweise wieder möglich wurde, an einem öffentlichen und kulturellen Leben teilzunehmen, doch hat es mir erst der Lockdown ermöglicht, es auch wieder bewusst genießen zu können. (3.10.2020)