Christoph Wiederkehr ist jung, hat aber schon sieben Jahre Politik auf dem Buckel. Die nächsten fünf Jahre soll das so bleiben, danach einmal schauen: "Politik ist eine Aufgabe für eine Lebenszeit, keine Lebensaufgabe."

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Zielgerichtet steuert die ältere Dame auf den Wahlwerbestand der Neos auf der Mariahilfer Straße zu. "Sogn S’, gibt’s noch eines von den Stoffsackerln?" Ein junger Mann mit aufgekrempelten Hemdsärmeln reicht ihr eilfertig den Beutel und versucht, am Interesse der potenziellen Wählerin anzuknüpfen: "Ich darf Ihnen auch unsere Inhalte mitgeben?" – "Na, die brauch ich net. I wü nur des Sackerl."

Müßig zu erwähnen, dass die Dame, die sich zufrieden mit der Stofftasche davonmacht, keine Ahnung hat, wer der nette junge Mann ist, der sie ihr in die Hand gedrückt hat. Auflösung: Es handelt sich um Christoph Wiederkehr, 30 Jahre alt und Spitzenkandidat der Neos bei der Wien-Wahl, wobei vermutet werden darf, dass diese Info die Freude über die Stofftasche nicht rasend vergrößert hätte.

Christoph Wiederkehr also. Ein Mann, der im Wiener Wahlkampf eine klar umrissene Aufgabe hat: sich erst einmal bekannt zu machen. Denn um die Ideen der Neos unter die Leute zu bringen, reicht ein Stoffsackerl nicht. Es braucht ein Gesicht, eine Persönlichkeit, und zwar beides mit Wiedererkennungswert.

Der bisher dominierende Cast hat diese Sorge nicht. Jeder hat seine Rolle gefunden: Da wäre der gesellig-mächtige Stadtvater Michael Ludwig; die empathisch-patscherte Ex-Sozialarbeiterin Birgit Hebein; Gernot Blümel, der slicke Zwilling des (noch viel slickeren) Kanzlers. Heinz-Christian Strache, der tief gefallene rechte Wuchteldrucker und schließlich dessen arrogant-provokantes Mini-Me Dominik Nepp.

WAHLKAMPF IN PINK: Spitzenkandidat Wiederkehr kämpft wacker um Aufmerksamkeit im Wahlkampf – auf der Mahü.
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Fleiß als herausragende Eigenschaft

Was aber zeichnet Christoph Wiederkehr aus, außer, dass er der laut Umfragen am wenigsten bekannte Kandidat ist?

Er ist von allen der jüngste, dabei aber alles andere als ein Quereinsteiger. Sieben Jahre Politik hat er auf dem Buckel. Zunächst als Student der Politikwissenschaften Vorsitzender der Junos, danach fünf Jahre im Stadtparlament, seit zwei Jahren ist er zudem Landessprecher und Klubchef der Neos in Wien.

Da sollte er sich doch mit irgendwas einen Namen gemacht haben. Herausragende Eigenschaft? Fleiß.

Stimmt, seit 2015 hat Wiederkehr 301 Anträge im Landtag und Gemeinderat eingebracht, dazu weitere 431 schriftliche Anfragen. Er beackert unermüdlich das Thema Bildung, fordert ein Transparenzpaket zur Flächenwidmung, die Ausweitung der Prüfbefugnisse des Stadtrechnungshofes auf die Finanzen der Wiener Landesparteien, die Einführung eines Informationsfreiheitsgesetzes ...

Das sind vielleicht keine Ad-hoc-Quotenknüller, die das Gesicht eines Kommunalpolitikers auf Titelseiten bringen. Andererseits: Peter Pilz hat manchmal aus weit weniger weit mehr gemacht.

Der Mann für die Mitte

Wiederkehr ist der personifizierte Beweis dafür, dass der Wunsch nach mehr Sachlichkeit in der Politik eine fromme Lüge ist. In Wahrheit muss vorn jemand stehen, der oder die für die Dauer einer Rede vergessen lässt, dass es eigentlich um Sachpolitik geht.

Doch plötzlich steht Wiederkehr als Bürgermeisterkandidat der Neos in der ersten Reihe – auch wenn "Bürgermeisterkandidat" bei einer Sechs-Prozent-Partei eher eine Redensart ist.

Wie kam es dazu?

Er sei die logische Besetzung gewesen, heißt es aus der Partei, aber das kann ein stolzer Satz sein oder ein trauriges Bekenntnis. Er habe sich seine Meriten erarbeitet, sei smart, sehe gut aus. Kein schriller Aktionist, kein Sultan der Selbstdarstellung, jemand, der die junge Mitte ansprechen könne. "Und außerdem hat der Christoph Zeit für den Wahlkampf", sagt einer entwaffnend ehrlich.

Unter der Discokugel

Also rollt Wiederkehr für eine Serie der Kronen Zeitung über die Kindheitstraumberufe der Kandidaten in einer Konditorei Marzipan, fährt für die U-Bahn-Zeitung Heute mit der S-Bahn von Heiligenstadt nach Hütteldorf, dreht für ATV mit seinen Kontrahenten eine Runde im Riesenrad. Oder er tanzt, zum Glück nicht frei von Selbstironie, für Instagram-Werbespots stocksteif unter einer Discokugel.

Er hat sich einiges vorgenommen, 13 Interviews und elf TV-Auftritte in knapp vier Wochen, dazu Treffen mit Stakeholdern und Straßenwahlkampf, soweit es Covid-19 zulässt. Wo immer er auftaucht, folgt ihm seine persönliche Social Media-Betreuerin als Schatten. Ein paar Minuten später wird jeder noch so dröge Termin dank lustiger Gifs zur Insta-Story oder zum Facebook-Posting. Zwei Millionen Euro beträgt das Wahlkampf-Budget der Neos, 200.000 davon fließen in Online-Kampagnen und Social Media.

Anfang September hält Wiederkehr bei 6112 Facebook-Fans, Michael Ludwig hat 48.000, Dominik Nepp 100.000.

Entkoppelt

Also los. 7. September, Schulbeginn. Vor der Piaristenschule am Jodok-Fink-Platz im 8. Bezirk läuft Wiederkehr hinter Eltern in Barbour-Jacken und Kindern in Schuluniform her und verteilt Bleistifte, Mannerschnitten (beides gern genommen) und Wahl-Flyer (weniger gern genommen).

"Schau mal, das ist der lustige Mann vom Plakat", sagt ein Vater zu seinem Sohn und zeigt auf Wiederkehr. "Na bitte! Nicht mehr ganz unbekannt!", freut sich der tapfer. Nach sieben Jahren Politik und mitten in einem Wahlkampf liegt das dennoch eher am unteren Rand eines Teilerfolgs.

Vier Tage später der offizielle Wahlkampfauftakt. Corona-bedingt ohne Live-Publikum, sondern als Videoübertragung aus der Parteizentrale in der Neustiftgasse. Keines der üblichen Features fehlt: Europahymne, Einspieler, Moderator, pinke Paravents, Vidi-Wall.

Doch ohne Menschen keine Stimmung. Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger bemüht sich redlich. Sie ballt die Fäuste, redet so leidenschaftlich und emphatisch, wie das in einem leeren Saal möglich ist.

Beim Bezirkstreffen im Hotel Brillantengrund im Siebten.
Foto: Matthias Cremer

Sie ist ein Profi, und Wiederkehr, der nach ihr kommt, hat es deshalb gleich noch schwerer. Er versteckt sich hinter dem Rednerpult, blickt immer wieder auf die vorbereiteten Zettel. Seine Rede dauert 23 Minuten, und er sagt Sätze wie "Wir erleben eine Entkopplung vom Menschen und der Stadt".

Das klingt nach Uni-Vorlesung oder Experten-Kommentar, aber nicht unbedingt wie eine Botschaft, die einer Wiener Wählerin oder einem Wiener Wähler das Herz aufgehen lässt. "Hm, war nicht so gut", sagt Wiederkehr später ein wenig geknickt.

Was erwartet sich die Partei von ihm? Mutmaßlich nicht allzu viel. Bei der vergangenen Wahl im Jahr 2015 kamen die Pinken in Wien auf etwas über sechs Prozent. In etwa da stehen sie laut Umfragen auch derzeit, vielleicht ein leichtes Plus.

Für eine urbane Partei in der größten Stadt des Landes ein ernüchterndes Resultat. "Die Corona-Krise stärkt halt Regierende gewaltig", sagt Wiederkehr. Eine kleine Oppositionspartei habe wenig Profilierungsmöglichkeiten, egal ob in Wien oder im Bund.

Ein bisserl Aufregung, bitte

Die anderen Kandidaten liefern verlässlich Aufreger. Hebein empört die halbe Stadt mit ihrer Forderung nach einer autofreien City, Ludwig empört die andere Hälfte (oder eher weniger), weil er genau das nicht will. Blümel regt die Linken auf, weil er keine Flüchtlingskinder aus Moria aufnehmen will, Nepp lässt Plakate affichieren, die so ausländerfeindlich sind, dass kein Verdacht aufkommt, wer die rechteste Oppositionspartei ist, und Strache muss sich um Polarisierung weiß Gott nicht mehr bemühen.

Was die Neos verlangen, hat in diesem Adrenalin-Püree wenig Aufreger-Potenzial. Bessere Bildung, mehr Schulpsychologen, weniger Freunderlwirtschaft, die Abschaffung der nichtamtsführenden Stadträte und stellvertretenden Bezirksvorsteher. Nun ja. Und die weiteren Forderungen nach mehr Radwegen, einer klimafreundlicheren Stadtplanung finden sich mit Detailabweichungen so auch in den Programmen von Rot und Grün. Braucht es wirklich noch eine dritte Wohlfühlpartei, die sich um die Wähler im linksliberalen Spektrum balgt?

Kleine, persönliche Erfolge

Neue Wähler könnten die Neos traditionell vor allem bei der ÖVP oder den Grünen holen. Weil aber deren Zustimmungswerte derzeit auch ohne großes Zutun steigen, sei jede zusätzliche Stimme ein persönlicher Erfolg für ihn, sagt Wiederkehr. Auch das eher eine sachliche Analyse als ein Schlachtruf.

Doch Wiederkehr feiert kleine, persönliche Erfolge.

Er habe sich früher oft ausgemalt, wie es wäre, im ZiB 2-Studio zu sitzen, erzählt er mit leuchtenden Augen. Als es dann so weit war, sei er sehr aufgeregt gewesen. Er klingt, als könnte er manchmal selbst noch nicht ganz glauben, dass er jetzt in der politischen A-Liga mitspielt.

Nächster Auftrag. Ein TV-Duell mit ÖVP-Spitzenkandidat Gernot Blümel. 29. September, der Morgen davor. Es ist 9.30 Uhr. Im Rathausclub der Neos sitzt an drei zusammengerückten Tischen ein Kernteam um Wiederkehr: Julia Deutsch, eine seiner engsten Mitarbeiterinnen, Kommunikationsprofi Stefan Maier, für den Wahlkampf als "Head of Messaging" eingecheckt, und Ralph Waldhauser, erfahrener Kommunikationsleiter der Neos Wien.

Die vier grübeln, welche Strategie gegen den Türkisen die richtige ist. Wiederkehr soll gegen Blümel weniger angriffig auftreten als gegen FPÖ-Mann Nepp, um potenzielle Wechselwähler nicht abzuschrecken.

Waldhauser erwartet keine großen Attacken: "Blümel sieht uns als unwichtig an. Du gewinnst, wenn du lösungsorientiert bleibst." Dann geht es um Details. Soll Wiederkehr die rechte Politik der ÖVP "widerlich" oder "enttäuschend" finden? Am Ende wird es "enttäuschend".

Am meisten bringen die TV-Duelle. "Jetzt kennt man mich", hofft er. "Ich bin keiner, der in Debatten viele Schmähs reißt. Ich bin ein anderer Typ – und mag mich nicht verstellen", sagt Wiederkehr über seine TV-Auftritte.
Foto: ORF / Thomas Jantzen

Wiederkehr macht sich am Rand des Blattes Notizen. Die Corona-Hilfen werden ein Thema sein. Waldhauser, der Mann für die schnellen Punch-Lines, liefert: "Wenn Blümel sagt: ‚Schicken Sie mir die Unternehmer, die noch keine Hilfen bekommen haben‘, dann kannst du sagen: ‚Die kann ich Ihnen nicht mehr schicken, die haben nämlich schon zugesperrt.‘" Wiederkehr lacht: "Voll, das ist gut!"

Eine Frage des Timings

Beim Duell am Abend kommt es dann tatsächlich zu der einstudierten Situation, aber Blümel spricht einfach weiter, das Timing passt nicht mehr, Wiederkehr kann die Pointe nicht richtig setzen. Als er sie wenig später nachreicht, taugt sie immerhin noch als Schnipsel für Facebook und Instagram.

Wiederkehr fehlt die Routine und Sicherheit, um Pointen zu verwandeln und Punkte treffsicher zu landen. Gegenüber der Grünen Hebein verlangt er den Bau eines Schnellbahn-Rings um die Stadt. "Das geht nicht", lässt ihn Hebein abblitzen. "Warum?", fragt Wiederkehr viel zu schüchtern, und Hebein redet einfach unbeirrt weiter, bis schließlich Duell-Moderatorin Ingrid Thurnher einspringt: "Herr Wiederkehr möchte gern wissen, warum das nicht geht." Das tut weh.

Gute Kinderstube

Christoph Wiederkehr gehört wohl zu den Politikern, die man lieber privat treffen würde, als ihnen auf der großen Bühne zuzuhören. Und das ist gleichzeitig ein Kompliment und ein vernichtendes Urteil.

Wenn es ihm bloß gelänge, die Massen für seine Geschichte und seine Person zu interessieren.

Mittagessen im Cafè Caspar, einem schicken Studentenlokal um die Ecke des Rathausclubs. Wiederkehr bestellt Karottennockerl statt des Pulled-Pork-Burgers, auf den er eigentlich Appetit hätte. Er hat Sorge um sein blaues Hemd, am Abend hat er noch einen Auftritt und wenn er sich ankleckert, muss er heim nach Hernals fahren und ein frisches anziehen. Zeit dafür hat er eigentlich keine.

Christoph Wiederkehr ist ein höflicher Mann mit guter Kinderstube. So wirkt er auch vor den Kameras. Aber er hat eine Familiengeschichte, und die ist kein bisschen durchschnittlich.

Echte Emotion

Wiederkehr erzählt von seinem Vater, der mit 13 Jahren aus Ungarn nach Österreich geflohen ist. Dessen Schilderungen der Gräuel in Budapest 1956, seine ersten Jahre als minderjähriger Flüchtling, allein, ohne Eltern und Sprachkenntnisse in Salzburg: Das sei für ihn prägend gewesen. Mit diesem Hintergrund empfindet er das, was in Moria derzeit geschieht, als unerträglich. Seine Stimme ist jetzt sehr ruhig, er schaut auf den Teller. Auf einmal ist sie da, die echte Emotion, die man bei seinen TV-Auftritten vermisst.

Wenn man ihn einen Überzeugungstäter nennt, fühlt er sich verstanden. Er habe in den letzten vier Wochen viel gelernt, auch über sich. Und was denn? "Wie wichtig die innere Gelassenheit ist. In der Politik hetzt man von Termin zu Termin, ist gestresst. Man nimmt sich gar nicht die Zeit, zu überlegen, wer man sein will."

Vor seinem TV-Duell mit FPÖ-Mann Dominik Nepp habe er sich erstmals hingesetzt und reflektiert. "Nepp und ich haben zwei komplett unterschiedliche Ansichten, wie die Welt aussieht. Damit dient mir das Duell nicht nur dazu, Argumente abzutauschen, sondern gibt mir die Chance, auch meine Anschauung zu erklären." Es wird sein bester Auftritt während des Wahlkampfs: Emotional, authentisch.

Aber der Weg ist noch weit. Vier Wochen nach Beginn seiner Ochsentour sind zu den 6112 Facebook-Fans gerade einmal 252 dazugekommen. (Nana Siebert, 3.10.2020)