Mitten im dörflichen Idyll, an den Flusslauf des Lech geschmiegt, klafft die riesige Baustelle.

Foto: Dietmar Stiplovsek

Es ist gerade etwas kompliziert, wenn man im Gemeindeamt von Lech zum Bürgermeister will. "Zum Muxel? Oder zum Jochum?", fragt eine Mitarbeiterin. Stefan Jochum, der designierte Bürgermeister, lädt zu Terminen in sein altes Büro, für ein paar Tage arbeitet er noch als Standesbeamter.

Dabei wirkt Jochum bereits genau so, wie man sich den Bürgermeister einer wohlhabenden Skisportgemeinde wie Lech am Arlberg vorstellt, gebräuntes Gesicht, graumelierte Schläfen, eine Mischung aus Hoteldirektor und Bergdoktor.

Doch Jochum gibt sich betont bescheiden. "Ich bin ja noch nicht Bürgermeister", sagt er zur Begrüßung. Am vergangenen Sonntag hat er die Stichwahl gegen Langzeitbürgermeister Ludwig Muxel mit 53,6 Prozent gewonnen. Die Kür ist eine Formalität.

Der Neue: Stefan Jochum folgt Ludwig Muxel als Bürgermeister von Lech.
Foto: Dietmar Stiplovsek

Für Lecher Verhältnisse gab es aber viel Streit. Altbürgermeister Muxels "Liste Lech" verschickte Briefe, um gegen die Bürgerliste "Unser Dorf" mit dem Herausforderer Jochum Stimmung zu machen. Nicht dramatisch, doch in Lech gilt "Wahlkampf" als Schimpfwort.

Nun müssen sich vier Fraktionen im Gemeinderat des 1600-Einwohner-Orts zusammenraufen, denn es gibt noch die zwei kleinen Listen "Zusammen uf Weg" und "Zukunft wagen". Jochum gibt deshalb derzeit ungern Interviews, zunächst bittet er sogar, nicht fotografiert zu werden, er wolle niemanden provozieren. Schließlich stapft er doch auf eine Wiese, im Hintergrund die Kirche, und ringt sich ein Lächeln ab.

Auf einmal entglitten Dinge

Lech ist eine kleine Gemeinde, die im Winter gewaltig groß wirken kann. In einer Skisaison, die nicht von einem globalen Virus getrübt wird, verzeichnet man 850.000 Nächtigungen, an einem Wintertag drängen sich im Schnitt 15.000 Menschen im Ort. Auch die niederländische Königsfamilie kommt gerne.

Ludwig Muxel (65) führte die Gemeinde Lech 27 Jahre lang, sein Name und der Titel Bürgermeister schienen im Ort wie natürlich verschmolzen. Doch vor ein paar Monaten entglitten Muxel die Dinge.

Man würde den Altbürgermeister gerne fragen, warum die Lecher ihn abgewählt haben. Aber am Telefon meint er: "Über die letzten Monate sage ich gar nichts." Nur so viel: "Es ist manches nicht gut gelaufen, aber nicht nur in meinem Sinne, auch im Sinne des Dorfes."

Am Telefon klingt Muxel, als sei er beleidigt auf sein Volk, vielleicht ist das einfach so nach 27 Jahren als Bürgermeister. Als Muxel ins Amt kam, war Franz Vranitzky noch Kanzler, Wolfgang Schüssel trug Fliege, und die ÖVP hatte in Vorarlberg 51 Prozent.

Auch andere Bürgermeisterstichwahlen in Vorarlberg brachten vorige Woche überraschende Ergebnisse. Die Zeit der unbesiegbaren Ortskaiser ist vorbei. Der Sozialdemokrat Michael Ritsch eroberte Bregenz zurück, der Vorarlberger SPÖ-Chef Martin Staudinger wird Bürgermeister in Hard am Bodensee.

Sein Langzeitvorgänger: Ludwig Muxel.
Foto: APA / Florian Lechner

Doch in Lech ist die Machtverschiebung besonders sichtbar. Vor fünf Jahren gab es noch gar keine Liste, nun gibt es vier. Im Herzen von Lech klafft jetzt eine Lücke, und das liegt nicht daran, dass Muxel die Politik verlässt. Nein, im Frühjahr ließ die Gemeindevertretung – so nennt sich im Ländle ein Gemeinderat – die Bagger auffahren.

Mitten in der Corona-Pandemie begann man mit dem lange geplanten Bau des neuen Gemeindezentrums. Ein Riesenprojekt, bei dem zwei quaderförmige Gebäude hochgezogen werden sollen, darunter zwei Geschoße Tiefgarage. Die Bevölkerung von Lech zeigte sich wenig begeistert, manche argwöhnten, mit den "Muxel-Towers" wolle sich der Bürgermeister wohl sein Vermächtnis ins Ortsbild einschreiben.

"Fragen könnt ihr nachher"

Im Juli kippte die Stimmung, es war der Anfang von Muxels Ende. Die Lecher erfuhren, dass der Bürgermeister mit der Kadewe-Gruppe, an der der Immobilieninvestor René Benko beteiligt ist, über die Vermietung von rund 2500 Quadratmetern Verkaufsfläche verhandeln ließ. Eine der zwei Tiefgaragen, so das Modell, sollte zum unterirdischen Shoppingtempel aufpoliert werden. Die bisherigen Kadewe-Standorte sind Berlin, München und Hamburg. Und jetzt Lech?

In einem Archivvideo vom März 2019 sieht man schon, wie Bürgermeister Muxel Nachfragen aus der Bevölkerung ungehörig fand. Damals referierte er bei einer Bürgerversammlung zunächst 25 Minuten lang, wie gut man die Bewohner mit Postwurfsendungen, Broschüren und Gemeindenachrichten über das 39-Millionen-Euro-Bauwerk angeblich informiert habe.

Als sich eine Bürgerin nach eineinhalb Stunden Vorträgen des Bürgermeisters, eines Architekten, eines Raumplaners und eines Steuerberaters eine Frage erlaubte, entgegnete Muxel: "Fragen könnt ihr nachher."

Offener Brief an den Bürgermeister

Im vergangenen Juli schrieb Olivia Strolz gemeinsam mit 15 weiteren lokalen Händlern einen offenen Brief an den Bürgermeister – wegen der durchgesickerten Gespräche mit der Kadewe-Gruppe. In diesen Tagen rüstet Strolz mit ihren Mitarbeitern ihr Sportartikel- und Modegeschäft für die Wintersaison um.

In den Regalen stapeln sich nackte Schaufensterpuppen, denen bald teure Wintermode angezogen wird. "Wenn die Gemeinde einen Bedarf für mehr Handel erkennt, dann hätten wir gerne von diesen Flächen erfahren", sagt Strolz. "Wir haben den Bürgermeister nicht angegriffen, wir haben einfach um Antworten gebeten."

Die Unternehmerin: Olivia Strolz.
Foto: Dietmar Stiplovsek

Strolz, 31 Jahre alt, eigentlich Architektin, hat den Familienbetrieb mit sieben Standorten und eigener Skischuhproduktion übernommen. In Lech gilt die Marke Strolz zwar als große Nummer, aber wenn die Kadewe-Gruppe einzieht, könnte das alles ändern. Hinter Kadewe stehen die thailändische Central Group und die Signa Retail des Tirolers Benko. Deren Offert versetzt die Geschäfte in Lech in Sorge.

"Man hätte zuerst mit unserem Handel im Ort über das Gemeindezentrum reden müssen", sagt der neue Bürgermeister Jochum, er gilt als Gegner der Kadewe-Idee. "Wenn Gäste nach Lech kommen, dann nicht zum Einkaufen. Eine Vielfalt der Geschäfte ist schon wichtig. Ich glaube aber nicht, dass mehr Leute nach Lech kämen, wenn hier ein Kadewe wäre."

In ihrem Brief zitieren die Händler auch das Raumkonzept der Gemeinde: "Lech soll Dorf bleiben", der "dörfliche Charakter" erhalten werden. Aber kann man noch von einem Dorf sprechen, wenn an der Hauptstraße Seilbahnstationen und große Hotels liegen?

Mitbürger und zugleich Mitbewerber

Lech ist eine spezielle Gemeinde – abgelegen, aber international, wenige Bürger, viele Gäste. Die Gemeinde funktioniert fast wie ein Unternehmen, sie betreibt einen eigenen Bauhof, der ständig etwas zu reparieren hat, sie lässt einen kostenlosen Bus für Skitouristen durch den Ort fahren.

Weil praktisch alle Lecher vom Tourismus leben, sind sie Mitbürger und zugleich Mitbewerber. Die Väter des neuen Gemeindezentrums tauften jenes der zwei geplanten Gebäude, in welches das Gemeindeamt und die Gästeinformation reinkommen sollen, die "Dorfrezeption". Ist Lech bereits ein touristischer Hochleistungsbetrieb, der sich nur als Dorf verkleidet?

In diesen Tagen ist Lech ruhig, die Wintersaison noch fern, die Sessellifte stehen still. Die Fahrer der Postbusse rauchen in den Pausen hinter ihren Lenkrädern, weil sie ohnehin leer durch die Orte fahren. Allein die zwei Kräne in der Baugrube des neuen Gemeindezentrums bewegen sich – es muss ein Deckel darauf, bevor der Winter kommt.

Für den Hotelier Gerold Schneider ist das geplante Gemeindezentrum nur ein Symptom einer Politik nach dem Muxel-Prinzip. Der 53-Jährige sitzt im weichen Licht seines Fünfsternehotels Almhof Schneider und schilt die Lecher Kommunalpolitik.

Tückische Mehrheitswahl

Bis 2015 wählten die Bürger in Lech noch per Mehrheitswahl. Weil es keine Liste gab, schrieb jeder Wähler einen Namen auf ein leeres Blatt Papier. In der Theorie: ein sehr demokratisches System mit lauter Gemeinderäten ohne Klubzwang. In der Praxis, sagt Schneider, der bis heuer im Gemeinderat war, habe es "autoritäre Züge".

Der Hotelier: Gerold Schneider
Foto: Darko Todorovic

"Eine Praxis des Herrn Muxel war, das Mehrheitswahlrecht so auszulegen, dass nicht jeder der 18 Gemeinderäte in die Ausschusssitzungen gehen durfte. Wenn ich hingegen Listen habe, kann eine Fraktion ein Mitglied in jede beliebige Ausschusssitzung entsenden. Ohne Listen kann man Informationen zurückhalten."

Auch der neue Bürgermeister Jochum wurde fast ein Opfer der Mehrheitswahl, erzählt man in Lech. 2015 hätten zwar viele Bürger seinen Namen auf den Zettel geschrieben. Aber weil es in Lech auch einen zweiten Mann namens Stefan Jochum gibt, den hochbetagten früheren Wirt der Hubertusklause, habe man viele Jochum-Stimmen nicht gewertet. Nur knapp schaffte es Jochum, nun Bürgermeister, damals in den Gemeinderat.

2015 schien es bereits so, als stehe Muxel kurz vor dem unfreiwilligen Abschied. Neun von 15 Gemeinderäten traten aus Protest zurück. Damals ging es um Bewilligungen für Ferienwohnungen von Wirtschaftsbossen und Prominenten. Der Vorwurf lautete Intransparenz.

Vorkaufsrecht von Benko abgelöst

Ein brisantes Kapitel ist auch die Errichtung des maßlos teuren Chalets N in Oberlech. Eigentümerin der Immobilie ist eine Benko-Firma. Für die Liegenschaft im Gebirge hatte die Gemeinde ein Vorkaufsrecht, das von Benko aber gegen Bezahlung einer halben Million Euro abgelöst wurde.

Die Justiz vermutete 2015, 250.000 Euro davon seien für eine schnelle Abwicklung geflossen. Der Investor bestritt alle Vorwürfe, die Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft gegen den Bürgermeister wie gegen Benko wurden eingestellt.

Es gibt in Lech noch viele Muxel-Getreue und solche, die in seiner Bilanz auch viel Positives erkennen. Muxels "Liste Lech" stellt künftig acht der 18 Gemeinderäte, mehr als "Unser Dorf" mit fünf. In der Stube des Tannbergerhofs lässt sich der Hotelier Johannes Pfefferkorn einen Topfenstrudel bringen.

Der Jungpolitiker: Johannes Pfefferkorn.
Foto: Dietmar Stiplovsek

"Ludwig Muxel hat es als Bürgermeister geschafft, Lech international nach vorn zu bringen", sagt Pfefferkorn, hagere Gestalt, akkurat getrimmter Vollbart, und schwärmt vom Philosophicum Lech, vom Biomasseheizwerk und vom Gratis-Ortsbus.

Der 37-Jährige war bisher Gemeindevorstand und ein Vertrauter des Altbürgermeisters. Die Gemeindevertretung schickte den Jungpolitiker in drei Gesprächsrunden mit einem Kadewe-Vertreter über die Handelsflächen. Muxel selbst war dem Vernehmen nach nicht dabei, aus optischen Gründen nach der Chalet-N-Sache.

Warum aber berichtet man den Bürgern in einem kleinen Ort nicht von solchen Verhandlungen? "Im Gemeindegesetz des Landes Vorarlberg gibt es ein sogenanntes Amtsgeheimnis", sagt Pfefferkorn. "In einem Verfahren, wo es um einen Verkauf oder eine Vermietung einer Fläche der öffentlichen Hand geht, ist eine gewisse Amtsverschwiegenheit verpflichtend." Es klingt so, als sei das Muxel-Politikverständnis noch lange nicht Geschichte.

Baukräne für Visionen

Und warum wollte Muxel das Gemeindezentrum trotz Kritik bedingungslos bauen? Er sah sich wohl als Visionär. Der Bevölkerung muss man das mit Baukränen vorführen, dann verstehen sie es schon.

So klang Muxel zumindest nach der Bürgerversammlung im März 2019. "Ich habe schon das eine oder andere Projekt erlebt, das sich am Anfang schwergetan hat, aber mit der Umsetzung ist die Begeisterung gekommen, das wird auch hier der Fall sein", sagte er damals.

Die Liste "Unser Dorf" und Stefan Jochum versprechen den Bürgern "Transparenz und echte Mitbestimmung". Mal schauen, sagen nun manche in Lech. "Ich hoffe, unser neuer Bürgermeister wird das Potenzial im Ort anzapfen", sagt Olivia Strolz. "Es ist viel Know-how herum. Man muss sich nicht davor fürchten, Leute mitreden zu lassen." (Lukas Kapeller, 3.10.2020)