Es ist nicht einfach, in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen gegen die Regierung auf die Straße zu gehen.

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"Geldbörse hat er keine, aber Taschen!", skandieren die rund hundert Demonstranten vor der Residenz von Benjamin Netanjahu in Jerusalem. Es ist eine Anspielung auf die Vorliebe des israelischen Premierministers für edlen Champagner und teures Essen auf Rechnung guter, jedenfalls kapitalstarker Freunde. Da die Justiz bei diesen Einladungen eine Gegenleistung vermutet, ist Netanjahu wegen Korruption angeklagt, und zwar in drei Fällen – oder "Taschen", wie man auf Hebräisch sagt. Die Demonstranten schlachten das Wortspiel genüsslich aus.

"Netanjahu hat Angst vor dem Rücktritt, weil dann alle anderen Korruptionsgeschichten herauskommen, von denen wir jetzt noch gar nichts wissen", glaubt der 56-jährige Eyal, ein Stammdemonstrant in Jerusalem. Darum sei es ihm wichtig, die Demonstrationen zu verbieten: Niemand prangere die Korruption des Premiers so lautstark an wie der Straßenprotest.

Von Lärm kann an diesem Samstagabend jedoch keine Rede sein. Wo sich bisher jede Woche rund 15.000 Demonstranten alle Mühe gaben, so viel Krach wie möglich zu machen, stehen jetzt nur rund hundert maskierte Menschen aller Altersschichten auf dem Gehsteig aufgefädelt, mit jeweils zwei Metern Abstand zueinander. Gemäß einem jüngst erlassenen Gesetz ist die Teilnahme an Demonstrationen nur noch im Umkreis von 1000 Metern Entfernung vom eigenen Wohnsitz erlaubt.

Eyal, der eigentlich 40 Kilometer außerhalb wohnt, hat sich deshalb mit vier anderen Aktivisten extra in einer Wohnung nahe Netanjahus Residenz eingemietet. Geschlafen hat er dort aber noch kein einziges Mal. Seit Monaten schläft er hier im Protestcamp auf dem Gehsteig. Um im Lockdown weiter auf legale Weise campen zu können, hat der arbeitslose Tourguide einen Mietvertrag unterschrieben. Die Polizei, die ihm am Freitag gegen 22 Uhr ein 140-Euro-Strafmandat verpasste, ließ das aber nicht gelten. "Kann ja jeder behaupten, dass das sein Mietvertrag ist", sagte der Beamte.

Kritik an der Polizei

Wenn es der Plan der Regierung war, die Demonstrationen einzudämmen, dann ging er nicht auf. Hunderte Mini-Proteste schossen im ganzen Land aus dem Boden. Handyvideos belegen eine Häufung von Polizeigewalt bei den Protesten, und in sozialen Medien wurde von linker Seite am Sonntag deutliche Kritik an der Exekutive laut: Diese kümmere sich vor allem um die Straßenproteste, schaue bei Massengebeten in ultraorthodoxen Siedlungen in Zeiten von Corona aber weg.

Solche Massenveranstaltungen gab es an diesem Wochenende jedenfalls zuhauf. In Kyriat Belz, einem Ultraorthodoxen-Viertel im Nordwesten Jerusalems, strömen an diesem Samstag, dem ersten Tag des Laubhüttenfestes, Familien aus allen Häusern in Synagogen. Hört man im Zentrum Jerusalems ständig irgendwo eine Polizeisirene aufheulen, kommt an diesem Schabbat in Kyriat Belz der einzige Lärm aus den Synagogen. Gesänge in Stadionlautstärke schallen durch die Straßen. Legal ist das nicht. Aber es wird auch kaum geahndet. Wenn sich die Exekutive einmal in ultraorthodoxe Siedlungen vorwagt, dann scheint sie aber nicht sanfter vorzugehen als bei den Demonstrationen: Anrainervideos zeigen auch hier gewaltsame Szenen.

Starker Anstieg befürchtet

Epidemiologen befürchten nach dem Laubhüttenfest einen weiteren starken Anstieg an Covid-19-Fällen. Allein in den ersten vier Oktobertagen gab es knapp 100 Corona-Tote. Das Plus betrifft vor allem Ultraorthodoxe: Hier nimmt die Zahl der Sterbefälle jeden Tag um zehn Prozent zu.

Diese Menschen könnten noch am Leben sein, sagen Kritiker – hätte die Politik nur konsequenter gehandelt. Dass die Synagogen zu Yom Kippur offen waren, dass das gemeinsame Essen und Schlafen in Laubhütten nicht untersagt oder zumindest streng limitiert wurde, sei verantwortungslos, sagt etwa Dror Mevorach vom Hadassah-Spital in Jerusalem.

"Tod der Demokratie"

Limitiert wurden dafür die Demonstrationen. Protestcamper Eyal sieht darin ein Zeichen für den langsamen Tod der israelischen Demokratie. Er wird weiter protestieren. "Wir haben das Land schon gegen so vieles verteidigt", sagt er, "wir werden nicht ausgerechnet jetzt klein beigeben." (Maria Sterkl aus Tel Aviv, 4.10.2020)