Oliver Rathkolb, "Schirach. Eine Generation zwischen Goethe und Hitler". € 32,– / 351 Seiten. Molden, Wien 2020

Wer heute nach dem Namen von Schirach googelt, erhält von der Suchmaschine zuoberst den Schriftsteller Ferdinand von Schirach eingeblendet, der mit seinen beiden neuen Büchern in den Bestsellerlisten vertreten ist. Erst darunter folgt Baldur von Schirach, der Großvater des Erfolgsautors – um gleich die öftest gestellte von-Schirach-Frage zu beantworten – und einer der 24 Angeklagten im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46.

Der führende NS-Politiker kam für seine Tätigkeit als Reichsjugendführer und Gauleiter in Wien mit 20 Jahren Haft davon. Doch das einst größte politische Nazi-Nachwuchstalent war tiefer in den NS-Terror verstrickt, als er nach 1945 zugab, wie der Zeithistoriker Oliver Rathkolb in einer druckfrischen und überaus lesenswerten Biografie zeigt.

Histoclips

Elitäres Elternhaus

Die adelige Familie, in die von Schirach 1907 in Weimar geboren wurde, gehörte zur Elite des Kaiserreichs. Nicht nur mütterlicherseits gab es US-amerikanische Vorfahren, und der kleine von Schirach sprach bis zum Alter von fünf Jahren nur Englisch. Doch diese bildungsbürgerliche Herkunft schützte nicht vor früher Radikalisierung, im Gegenteil: Das rechtskonservative Elternhaus war ihr Nährboden, so eine der überzeugend argumentierten Thesen Rathkolbs.

Schon nach ersten Begegnungen mit dem "Führer" stellt sich der junge von Schirach ab 1925 ganz in den Dienst der NS-Bewegung und legt eine Blitzkarriere hin: 1931 wird er mit gerade einmal 24 Jahren Reichsjugendführer und jüngster Reichstagsabgeordneter. Durch die Heirat mit der Tochter von Hitlers Leibfotografen Heinrich Hoffmann kommt er seinem Idol noch näher, für das er bald eine hochprofessionelle PR-Tätigkeit entfaltet. Mit zahllosen Gedichten, Broschüren, Büchern und Events trägt von Schirach sowohl zum Führermythos wie auch zur nationalsozialistischen Verführung der deutschen Jugend bei.

"Verwienerter" Kulturpolitiker

Nach internen Machtkämpfen löst von Schirach 1940 den in Wien unbeliebten Josef Bürckel als Reichsstatthalter ab. Im engsten Hitler-Umfeld sinkt zwar von Schirachs Stern, da er bald als "verwienert" gilt, wie Goebbels in seinem Tagebuch notiert. Zu diesem Eindruck kommt es auch deshalb, weil von Schirach in Wien eine aufwendige Kulturpolitik betreibt, um auf diese Weise die NS-Herrschaft – etwa mit Mozart- oder Grillparzer-Wochen – hochkulturell abzusichern. Parallel dazu werden fast 50.000 Juden aus Wien deportiert.

Von deren systematischer Vernichtung will von Schirach erst spät erfahren haben – eine Lüge, wie Rathkolb anhand von Dokumenten im kürzlich digitalisierten Gaupressearchiv nachweist. Wenig heroisch sind von Schirachs weitere Lebensstationen: seine feige Flucht aus Wien in den letzten Kriegstagen, seine Ausflüchte beim Nürnberger Prozess, seine teuer verkauften Erinnerungen nach der Haft und sein Tod 1974 als verarmter Alkoholiker.

Üppigst illustrierter Band

Auch wenn die Psychologie von Schirachs ein wenig im Dunkeln bleibt, so ist Oliver Rathkolb mit diesem aufwendig recherchierten und üppigst illustrierten Band ein großer Wurf gelungen: Schirach ist nicht nur eine beeindruckende politische Biografie eines führenden Nationalsozialisten. Das Buch bietet am Beispiel dieses "NS-Influencers" auch gute Einblicke in die raffinierte Propagandamaschinerie der Nazis und zeigt eindrücklich, wie Hochkultur und NS-Terror in Wien koexistierten – mit Nachwirkungen bis in die Zweite Republik.