Die Hauptstadt der zwischen Armenien und Aserbaidschan umstrittenen Region, Stepanakert, wurde in den vergangenen Tagen immer wieder Ziel von Angriffen durch aserbaidschanisches Militär. Am Sonntag brach die Stromversorgung zusammen, zahlreiche Zivilisten suchten Schutz in Kellern. Sirenen heulten ununterbrochen, während das Zentrum von Raketen getroffen wurde.

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Die vor einer Woche im Südkaukasus zwischen Aserbaidschan und Armenien ausgebrochenen Kämpfe sind mittlerweile zu einem regelrechten Krieg eskaliert. Es handelt sich nicht mehr um einzelne Scharmützel entlang der früheren Waffenstillstandslinie, denn neben Bodentruppen sind mittlerweile auch Panzer, Kampfflugzeuge, bewaffnete Drohnen und Raketen im Einsatz.

Nachdem aserbaidschanische Truppen in den letzten Tagen immer wieder die Hauptstadt der selbsternannten Republik Bergkarabach, Stepanakert, angegriffen haben, zeigte das türkische Fernsehen am Sonntag auch Bilder von Raketeneinschlägen in der aserbaidschanischen Großstadt Ganja, die nicht an der Frontlinie liegt. Dabei sollen ein Zivilist getötet und vier verletzt worden sein.

Wie viele Menschen in den Kämpfen in der letzten Woche insgesamt ums Leben kamen, ist unklar, aber es müssen mehrere Hundert sein. Armenien meldete am Samstag allein 51 getötete Kämpfer, Aserbaidschan macht zu seinen militärischen Verlusten keine Angaben. Sowohl der Präsident Armeniens, Nikol Paschinjan, als auch der sogenannte Präsident von Bergkarabach, Araik Harutjunjan, erklärten am Wochenende, die "entscheidende Schlacht" habe nun begonnen, an der gesamten Frontlinie werde gekämpft. Aserbaidschan habe einen Großangriff eingeleitet, der von "150 türkischen Offizieren" befehligt werde, wie Paschinjan behauptet. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev weist das zurück. "Unsere Armee ist allein stark genug", sagte er auf Al Jazeera.

Kaukasus als Spielball

Bei dem Krieg geht es vordergründig um die Kontrolle von Bergkarabach, einem Mittelgebirge im Westen Aserbaidschans, das historisch von Armeniern bewohnt wird, völkerrechtlich aber zu Aserbaidschan gehört, weil es unter Stalin der Sowjetrepublik Aserbaidschan zugeordnet wurde. Tatsächlich aber geht es wohl auch um Einflusszonen Russlands und der Türkei, die im Kaukasus historische Rivalen sind. Bergkarabach war ursprünglich eine Enklave ohne direkte Grenze zu Armenien.

Im Krieg zu Beginn der 90er-Jahre, nach dem Ende der Sowjetunion, vertrieben armenische Milizen die aserischen Bewohner aus der Region und eroberten auch das Gebiet zwischen Bergkarabach und Armenien, sodass heute die Region wie ein Teil Armeniens erscheint. Beide Seiten stilisierten das Gemetzel damals zu einem Religionskrieg zwischen den christlichen Armeniern und den muslimischen Aserbaidschanern.

Auf russischen Druck wurden die Kämpfe 1994 eingestellt. Seitdem herrschte ein instabiler Waffenstillstand, begleitet von Gesprächen unter der Leitung der OSZE, die aber keine Lösung brachten. Aserbaidschan fordert von Armenien, die besetzten Gebiete zu räumen, und bietet Bergkarabach einen Autonomiestatus innerhalb Aserbaidschans, was diese vehement ablehnen.

Moskau fordert Gespräche

Russland hat einen großen Militärstützpunkt in Armenien und garantiert auch wirtschaftlich das Überleben des armen Landes, will aber bislang nicht selbst militärisch aktiv werden, weil es auch gute Beziehungen zu Aserbaidschan unterhält. Stattdessen fordert Moskau zu Gesprächen auf, was Aserbaidschans Präsident Aliyev bislang aber ablehnt. "Dreißig Jahre Gespräche haben ja nichts gebracht", sagte er. Seine Truppen sind auf dem Vormarsch, und er will erst an den Verhandlungstisch, wenn er gegenüber seiner Bevölkerung relevante Geländegewinne vorzeigen kann. Einige besetzte Gebiete rund um Bergkarabach konnte er bisher zurückerobern.

Auch wenn die Meldung, türkische Offiziere würden den aserbaidschanischen Vormarsch kommandieren, Propaganda sein sollte – die Türkei bestreitet den Einsatz eigener Truppen – wird Aserbaidschan dennoch aus Ankara massiv unterstützt. Nicht nur mit Waffenlieferungen, sondern angeblich auch mit Söldnern. Aus mehreren Quellen wird berichtet, dass der türkische Präsident Tayyip Erdoğan, wie bereits zuvor in Libyen, mehrere Hundert syrische Jihadisten zur Verstärkung an die Front geschickt habe. Rund 30 von ihnen seien bereits getötet worden. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 4.10.2020)