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Papier zeugt Papier: Mit immer neuen Verordnungen soll das Überborden der Verwaltungstätigkeit eingeschränkt werden – nicht nur während der Pandemie.

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Die Aufgabe, Sars-CoV-2 an der Ausbreitung zu hindern, treibt die vielfach unsichtbar bleibenden Verwalter des Gemeinwohls an ihre Grenzen: nicht nur solche, die sachlich definiert sind. Der Pandemie sei Dank, stehen bürokratische Einrichtungen, vornehmlich die Krisenstäbe der Mediziner, seit vielen Monaten unter argwöhnischer Beobachtung.

Die Operation am offenen Herzen der Gesellschaft erzeugt unweigerlich Dauerstress. Gremien werken im Geheimen und schuften unbedankt. Dabei hoffen die Experten auf das für alle Bestmögliche: eine Übersetzung von reiflich erwogenen Entscheidungen in Sachpolitik.

Die Politik zeigt sich vornehmlich darauf erpicht, die Einnahme der bitteren Pillen, die sie an alle Covid-19-Gefährdete verabreicht, genießbar zu gestalten. Dabei treten Politik und Bürokratie einander auf die Zehen. Der erzeugte Stress wird an Millionen von Staatsbürgern weitergereicht: Eltern von schulpflichtigen Kindern sehen sich dem Gutdünken ihrer Schulbehörde ausgeliefert. Die Prosa, in der Verordnungen abgefasst werden, verstimmt ob ihrer Vieldeutigkeit nicht nur Schriftgelehrte. Die Corona-Ampel erstrahlt in den Malkastenfarben reiner Willkür. Der undeutlich empfehlende Charakter vieler Anordnungen trägt zur Verunsicherung bei; und so weiter.

Bürokratie gehört zu den großen Vorleistungen menschlicher Gemeinschaftsbildung. Um die Verteilung von Ressourcen auf Dauer zu stellen, wurden bereits im 5. Jahrtausend v. Chr. in Mesopotamien, der Wiege unserer Kultur, die Organisationsformen menschlicher Gesellschaft technisch erprobt.

Mann im Flanell

Man standardisierte Produkte, lagerte sie ein, zertifizierte sie. Man führte Buch über den Güterverbrauch. Sonnenklar, dass aus der Übertragung solch segensreicher Tätigkeiten allmählich die Rekrutierung von Beamtenheeren resultierte. Fast 7.000 Jahre später findet sich der diskrete "Mann im grauen Flanell", die Dame im neutralen Kostüm, im Herzen der Gesellschaft wieder. Das Herz der Verwaltung besitzt einen unbestechlichen Puls. Seinem Wesen nach entzieht es sich ebenso reiner Willkür, wie über seiner Muskeltätigkeit ein Schleier liegt.

Jede Undurchschaubarkeit weckt Argwohn, und so reichten Hass und Misstrauen gegenüber der Verwaltung bis herauf in die 1970er-Jahre, hinein in die Verästelungen linker Protestkultur. Mit dem Erstarken des Neoliberalismus wurde ab der Reagan-Thatcher-Ära ein neues Paradoxon wirksam. Die Unternehmensbürokratien paktierten nicht länger mit den eigenen Angestellten, sondern verlagerten ihre Loyalitäten auf den immer stärker werdenden Finanzsektor. Firmenverwaltungen – die "privatwirtschaftliche Kontortätigkeit", von der früher einmal Max Weber mit Blick auf Amerika sprach – orientieren sich seither am Nutzen von Anteilseignern und Hedgefonds.

Die "neue" bürokratische Unternehmenskultur hielt in diversen Gesellschaftsbereichen Einzug, mit klingendem Spiel. Beinahe sämtliche Aspekte des Alltagslebens werden seither manipuliert und zertifiziert. Bürokratische Techniken und Verfahren durchsetzen gleicherweise Bildung, Wissenschaft und Verwaltung. Der heilsam bürokratisierte Mensch der Spätmoderne stirbt den behaglichen, weil unmerklichen Wärmetod des Froschs. Das Wasser, das ihm bis zum Hals steht, wird nur ganz allmählich zum Sieden gebracht.

Ewig junges Wundermittel

Das amtliche Dokument hat den Gebrauchstest durch das Digitalzeitalter mit großer Fortune bestanden. Die Bürokratie ist nach wie vor das Wundermittel, dessen sich Markt und öffentlicher Sektor mit gleicher Inbrunst bedienen. Vergessen scheint, dass es gerade der Liberalismus war, der die Marktkräfte entfesseln wollte. Damit der unumschränkte Wettbewerb endgültig gesichert sei, wurde eine Flut von Vorschriften erlassen.

Freiheit wurde synonym zur Unfreiheit. Neue Gremien wurden gebildet, um mit dem Problem vorhandener Gremien fertig zu werden. Die Rationalisierung und Technifizierung des privaten Sektors erschuf nicht nur die Charakterfigur des "kleinen Angestellten"; ihn, den mausgrauen Bezieher von Sozialleistungen, gängelte alsbald ein Heer von Verwaltungsbeamten, Inspektoren, Referenten, Archivaren und Polizisten.

Der klassische Apparatschik ist aus dem Erscheinungsbild der Öffentlichkeit verschwunden. Mit ihm verendet scheint der durch Nachstellungen erschöpfte Kafka-Held. Ohne Beamte, die sachlichen Amtspflichten verhaftet sind, wäre eine funktionierende Gesellschaft unvorstellbar. Zweifelhafter erscheint der alte Popanz der "Zweckrationalität": Ihr, als dem Sachzwang, huldigt nach wie vor der gesunde politische Menschenverstand; zum mindesten gibt er das vor.

Doch haben Fake-News-Verbreiter, Message-Kontrolleure und Twitteranten den dünnen Boden administrativer Planung gezielt unterminiert und durchlöchert. Heutige "Charismatiker" verspüren denselben Impuls wie alle Potentaten: Tatsachen stiften sie allein. Verwaltet aber sollen sie von anderen werden. (Ronald Pohl, 6.10.2020)