Fünf Prozent des Wiener Stadtgebiets sind Wasser. Das Gros der Gewässer verläuft aber im Verborgenen, unterirdisch, subkutan.

Foto: Gerhard Trumler

Dass Wien "an der schönen blauen Donau" liegt, ist dank der schwungvoll-lieblichen, manchmal picksüß-verkitscht intonierten Walzermelodien des Strauß Schani selig weltbekannt. Alle Jahre wieder wird diese untrennbare Einheit mehr als 50 Millionen Menschen mit dem aus dem Goldenen Saal des Wiener Musikvereins in fast 100 Länder übertragenen Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker in Erinnerung gerufen.

Dass Wien von einer Unzahl an weiteren Flüssen und Bächen durchquert, geprägt und unterspült wird, ist nicht einmal vielen Wienern bewusst, Nichtwienern hingegen naturgemäß weitgehend unbekannt. Der Wienfluss ist manchen vielleicht in Erinnerung, auch der Donaukanal, eventuell die Liesing und, Herzmanovsky-Orlando sei Dank, der historische Wiener Neustädter Kanal, der allerdings heute gar nicht mehr existiert.

Auch ein großer Teil der Wiener U-Bahn-Linien fährt am Wasser entlang.
Foto: Gerhard Trumler

Viele der früher quer durch die Stadt fließenden Wiener Bäche sind heute reguliert, viele von ihnen plätschern oberirdisch, laufen entlang von Straßen, Trassen, münden in die Donau, den Donaukanal, in die Wien (vulgo Wienfluss) oder in die Liesing. Viele von ihnen aber wurden überbaut, verlaufen heute unsichtbar, unterirdisch, subkutan. Ihre Namen kennt man gut – aber nicht als Namen der Bäche, sondern vielmehr als Straßen-, Orts-, Flur- oder Bezirksnamen. Als Gewässer selbst eher in Vergessenheit geraten sind Krottenbach, Dornbach, Reisenbergbach, Mauerbach, Jägerbach sowie Kasgraben oder Kaisergraben.

Als Straßenzüge kennt man viele von ihnen. Auch als Bezirke, wie Ottakring, Dornbach oder Liesing. Die Existenz der Als verraten heute Straßenzüge wie die Alszeile, die Alserbachstraße und der Alsergrund. Dass unterhalb der Währinger Straße ein Bach selben Namens fließt, ist nur den wenigsten bewusst.

Waldbäche grüßen

Manchmal aber treten die 70 ehemals stolzen Wienerwaldbäche an die Oberfläche und rufen sich in Erinnerung – wie der Krottenbach, der ein-, zweimal im Jahr über die Ufer tritt und Keller und Parkgaragen flutet, wenn starker Regen in dem im Ernstfall doch zu engen unterirdischen Bachbett als Sturzflut nicht schnell genug abrinnen kann. Im Verborgenen bestimmen die Bäche aber weitgehend das Grundwasser und somit das Ökosystem der Stadt.

Es plätschert durch Beton, Asphalt und Grünflächen von Wien.
Foto: Gerhard Trumler

Dass seinerzeit "nah am Wasser" gebaut wurde, belegen Namen wie der Tiefe Graben oder auch Maria am Gestade. Früher lag die Innenstadt direkt am Ufer der Donau. Der Donaukanal entstand, um ständige Überflutungen zu verhindern, erst im 19. Jahrhundert als Regulativ.

Boulevard François Joseph?

Hätten Sie gewusst, dass Kaiser Franz Joseph eigentlich geplant hatte, den gesamten Wienfluss zu überbauen? Wäre nicht der Erste Weltkrieg dazwischengekommen, hätte man dieses Vorhaben in die Realität umgesetzt. Mit dem Untergang der Donaumonarchie wurden die Pläne leider begraben. Undenkbar, was das für ein Prachtboulevard geworden wäre. Allein die großartigen Architekturjuwele im Jugendstil entlang der Wienzeile offenbaren, was hier möglich gewesen wäre. Ein Boulevard von der Stadtgrenze in Hütteldorf bis zur Ringstraße. Länger und gigantischer als die Pariser Champs-Élysées. Unfassbar.

Hochwasser à la Veneziana

"Alle Städte sind gleich, nur Venedig is e bissele anders …", ließ Friedrich Torberg einst die Tante Jolesch lamentierten. Scheinbar war weder der seligen Tante noch dem noch seligeren Neffen die Ähnlichkeit ganzer Teile der Stadt Wien mit Venedig bewusst. Nein, hier ist weder die Venediger Au gemeint noch die mittlerweile versunkene Sektion des Praters, die zur Weltausstellung ein Little Venice mit Kanälen, Palazzi und Gondolieri auferstehen ließ. Es ist aber unglaublich, was und vor allem wie viel Wien und Venedig gemein haben.

Heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist das Faktum, dass zahlreiche Häuser der Wiener Gründerzeit auf Holzpfählen errichtet wurden. Nahe den vom Wienerwald, von den Wiener Hausbergen – Kahlenberg, Cobenzl, Leopoldsberg, Wilhelminenberg et cetera – herabschießenden Gebirgsbächen und wegen des porösen und sehr unterschiedlichen Untergrunds war es nicht einfach, Häuser zu bauen. So wurden stabile Pfahlbauten errichtet, die oft bis mehr als einen Meter unterhalb des Grundwassers reichten und dort auf tragfähige Erdmassen stießen. In der Leopoldstadt gibt es heute noch etliche dieser Bauten, und auch eines der berühmtesten Gebäude am Alsergrund, die Roßauer Kaserne, steht auf einem solchen Pfahlbau.

Der Warnruf "Acqua alta!" tönt jedoch selten durch die Stadt, auch wenn ein solches Szenario theoretisch denkbar wäre. Dafür trat beim U-Bahn-Bau ein anderes Problem zutage: Die Pfähle müssen regelmäßig nass werden. Stimmt die Humidität nicht, werden die Holzroste porös und drohen zu brechen, somit würden die darüber liegenden Pfahlbauten – und mit ihnen die Gründerzeithäuser – ebenfalls ins Wanken geraten. Wichtig ist, dass bei aller unterirdischer Bautätigkeit, trotz der Drainagen in der Kanalisation, das Grundwasser konstant bleibt, sonst würden ganze Viertel in Grund und Boden versinken. Attenzione, prego!

Unterirdische Krakenarme

Apropos. Majestätisch wachen Löwen bekanntlich über die Lagune von Venedig. Vielgestaltig ruhen sie in der Serenissima. Das ist bekannt.

Doch auch die nördliche Einfahrt Wiens wird von riesigen Großkatzen bewacht. Mit mächtiger Mähne und steinerner Miene stehen zwei überlebensgroße Löwen aufrecht an den Seiten des Wehrs zwischen Donau und Donaukanal und inspizieren alles Richtung Innenstadt Driftende. Otto Wagner – man ist versucht zu sagen: wer sonst?! – hat die architektonische und künstlerische Gestaltung des Donaukanals, der Wien, des Nussdorfer Wehrs inklusive Brücke, Nebengebäuden und Schleusenanlagen Ende des 19. Jahrhunderts verantwortet. Als Ehrerbietung hat Bildhauer Rudolf Weyr das Antlitz der Löwen Wagner wie "aus dem Gesicht geschnitten".

Dort und da treten Wiener Wasserwege aus ihren unterirdischen Bahnen ins Freie.
Foto: Gerhard Trumler

Lust auf weitere Überraschungen? Es gibt den Flussgott Danubius, der mit seiner Angetrauten Vindobona die Stadt bewacht. Und es gibt à la Oktopus hunderte unterirdische Seitenarme der Donau. Ursprung? Verlauf? Mündung? Die Erklärung liegt in der Existenz der 1841 bei der Spittelau in Betrieb genommenen, theoretisch bis heute funktionstüchtigen Kaiser-Ferdinands-Wasserleitung.

Um noch einmal auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen: Zählt man alle Flüsse, Bäche, Teiche und Seen zusammen, kommt man in Wien auf die stolze Zahl von exakt 200 Gewässern – 85 fließende, 115 stehende. Damit lässt sich beim "Stadt Land"-Spiel schon reüssieren.

Nun zurück zur "Millionenshow". "Armin nazionale, übernehmen Sie bitte." "Griaß enk. Na guat, dann hob i lei a neue Froge: Wie viele Kubikmeter Wasser fließen täglich durch das Stadtgebiet von Wien?" – "Next!" (Gregor Auenhammer, 6.10.2020)