Vorsitzende Christina Salzborn erfährt beim Prozess gegen Mariusz L., dass der 33-Jährige überzeugt ist, "hysterische Frauen" könne man am besten mit einem Messer am Hals beruhigen.

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Wien – In der Nacht auf den 11. April erlitt Frau K. eine Stichwunde in den Hals. Die Frage, die das Geschworenengericht unter Vorsitz von Christina Salzborn im Prozess gegen Mariusz L. klären muss, ist, wie das Küchenmesser dorthin gekommen ist. War es Mord? Davon ist die Staatsanwältin überzeugt. Ein Unfall? Das sagen der Angeklagte und sein Verteidiger Michael Vallender. Die Frage eines Geschworenen zielt sogar darauf ab, ob nicht auch eine versuchte Selbsttötung denkbar sei.

Zwischen 2,7 und 3,8 Promille Alkohol im Blut hatte der 33-jährige Angeklagte zum Tatzeitpunkt, errechnete Sachverständiger Günter Gmeiner. Zurechnungsfähig sei er trotz dieser Werte aber gewesen, ist der psychiatrische Gutachter Peter Hofmann sicher. Denn L. trinke seit 18 Jahren regelmäßig viel Alkohol – zehn große Bier plus Schnäpse täglich. Daher sei er "geeicht" und könne sich auch noch gut an den Tattag erinnern.

Trinkbeginn 13 Uhr

Um 13 Uhr habe man in der Wohnung der 50-jährigen Verletzten, mit der der Angeklagte eine On-off-Beziehung hatte, zu trinken begonnen, sagt der Angeklagte. Zehn Bier, eine Flasche Wodka, Beruhigungsmittel und ein wenig nasal aufgenommenes Heroin habe er intus gehabt. Zunächst sei noch ein Freund dabei gewesen, da L. aber aggressiv und streitsüchtig gewesen sei, sei der dann gegangen.

Bis hierher stimmen die Aussagen von L. und K., die sie bei der Polizei gemacht haben, überein. Die Frau erzählte damals, L. sei wegen von ihr angeblich gestohlener 20 Euro wütend geworden. Er habe sie gefragt, ob sie eine Schlägerei wolle, hat die Antwort nicht abgewartet, sondern sie geschlagen und gewürgt. Dann habe er gedroht "Du bist nicht stark genug, heute wirst du sterben!". Schließlich habe er ihr das Küchenutensil mit einer 16 Zentimeter langen Klinge in den Hals gestochen.

Stimmt nicht, sagt der Angeklagte vor Gericht wie auch damals bei der Polizei. K. sei eifersüchtig gewesen und habe ihm Vorhalte wegen einer Bekannten gemacht. "Sie hat die ganze Zeit geredet", moniert er, sie sei "hysterisch" gewesen. Es entspinnt sich folgender Dialog zwischen L. und Vorsitzender Salzborn: "Ich wollte sie nicht töten. Ich wollte sie nur beruhigen." – "Das ist ein ausgewachsenes Fleischermesser. Das Messer hilft, dass man sich beruhigt?" – "Es ist einfach auf dem Tisch gelegen." – "Und dann war es einfach im Hals von Frau K.?" – "Ich habe es ihr nur an den Hals gehalten, damit sie sich beruhigt. Wenn eine Frau hysterisch ist, kann man sie sehr schwer beruhigen."

Vierfach vorbestrafter Angeklagter

Der vierfach vorbestrafte und mit Aufenthaltsverbot belegte Pole sagt, er könne sich nicht daran erinnern, wie es zu der Verletzung gekommen sei. Erst als er Blut gesehen habe, habe er das Messer herausgezogen und auf der Straße einen Autofahrer angehalten, der die Polizei verständigen sollte. Übrigens mit einem frischen Bier in der Hand, wie der Zeuge schildert.

Die Aussage der zum Tatzeitpunkt ebenfalls erheblich alkoholisierten Verletzten bringt dann eine Überraschung: Sie kann sich an noch weniger erinnern als der Angeklagte. K. sagt, sie könne sich noch erinnern, dass L. und sein Bekannter gestritten haben und letzterer dann gegangen sei. Danach wisse sie nichts mehr.

Diese Diskrepanz zu ihrer doch recht detaillierten Aussage bei der Polizei nur zwei Wochen nach dem Vorfall erzürnt Beisitzer Andreas Böhm. Er will wissen, was nun stimme – die Erinnerungslücken oder ihre ursprüngliche Version. K.s Antwort: "Ich weiß, dass ich was erfunden habe bei der Polizei. An einen Schlag kann ich mich erinnern, dass L. mich gewürgt hat, stimmt nicht." Auch ob die angebliche Todesdrohung gefallen ist, kann K. nicht sagen.

Keiner Erinnerung an Verletzung

"Warum haben Sie den Angeklagten verleumdet?", fragt Böhm. "Ich wollte, dass er Konsequenzen spürt", lautet die ausweichende Antwort. Als dann noch bekannt wird, dass K. damals an Depressionen litt und "viel früher" Suizidversuche unternommen hat, will der Geschworene wissen, ob die Frau ausschließen kann, sich selbst in das Messer gestürzt zu haben. "Ich kann mich nicht erinnern", lautet die Replik.

Vom Angeklagten will K. kein Schmerzensgeld, im Gegenteil, sie habe ihm sogar ein Geschenk mitgebracht. Da ihre Privatbeteiligtenvertreterin allerdings zuvor verlangt hat, dass L. während der Zeugenaussage aus dem Saal gebracht wird, kann sie ihr Präsent nicht überreichen. K. verrät auch noch den Grund der Konzilianz: "Ich habe Jesus Christus entdeckt, und als Gesetz gilt für mich das Liebesgesetz. Er hat mich befreit. Nicht nur von der Angst, sondern auch vom Alkohol."

Ein wenig Aufklärung über den Ursprung der Verletzung kann der gerichtsmedizinische Sachverständige Christian Reiter bieten. Er geht "mit hoher Wahrscheinlichkeit" davon aus, dass ein Rechtshänder in einem weit ausholenden Bogen zugestochen haben muss. Das schließt er daraus, dass der Stichkanal von oben nach unten verläuft. Eine ruckartige Bewegung bei einem am Hals angesetzten Messer würde eher einen Schnitt oder Kratzer verursachen, ist er überzeugt. Und ein absichtliches Rammen des Halses in die Waffe würde eine andere Richtung der Wunde bringen.

Stichwunde durch Glück nicht lebensgefährlich

Allerdings wurde auch nicht mit voller Wucht zugestochen, stellt Reiter klar. Der Stichkanal, der glücklicherweise knapp vor der Luftröhre endete und auch keine Schlagadern verletzte, sei nur zwei bis drei Zentimeter tief. Wie auch die Vorsitzende anhand der beigeschafften Tatwaffe feststellt, könne also nur der oberste Teil des Messers eingedrungen sein.

Die Geschworenen sehen darin einen Mordversuch und sprechen L. mit sechs zu zwei Stimmen schuldig. Für den Angriff erhält er nicht rechtskräftig 17 Jahre Haft, offene Vorstrafen werden widerrufen, und wegen der vom psychiatrischen Sachverständigen festgestellten Gefährlichkeit wird der Angeklagte in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. (Michael Möseneder, 5.10.2020)