In der Flüchtlingsdebatte würden von ÖVP-Verantwortlichen falsche Argumente wortreich wiederholt, kritisiert Ferry Maier, der ehemalige ÖVP-Nationalratsabgeordnete und Weggefährte des früheren Flüchtlingskoordinators Christian Konrad, im Gastkommentar. Und er sorgt sich, dass bald wieder "Ausländer raus"-Rufe zu hören sein könnten.

Innenminister Karl Nehammer brachte österreichische Hilfsgüter für das Flüchtlingslager Moria nach Athen. Vergangene Woche wurde bekannt, dass diese noch nicht auf Lesbos angekommen sind.
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Der Brand im Lager Moria hat die Aufmerksamkeit auf die katastrophalen Zustände in den griechischen Flüchtlingslagern gelenkt. Doch der Brand hat die Katastrophe nicht ausgelöst. Viele Menschen sitzen seit Jahren dort fest. Sie können weder vorwärts noch rückwärts. Ihre verzweifelte Situation und die menschenunwürdigen Lebensumstände sind das Ergebnis der Unfähigkeit der EU, sich auf eine verantwortungsvolle Asylpolitik zu einigen. Österreich hat als Teil der EU und damit als Mitproduzent der katastrophalen Situation im Lager Moria die Verantwortung, hier zu helfen – Menschen aus den Lagern zu retten und aufzunehmen. Griechenland muss in dieser akuten Notsituation in der Abwicklung der Asylverfahren entlastet werden. Damit verbunden ist die langfristige Integration von jenen, die von den griechischen Inseln gerettet werden sollten. Verantwortliche der ÖVP lehnen wortreich ab, viele Argumente gegen die Aufnahme von geflüchteten Menschen aus Lagern wie Moria werden gebetsmühlenartig wiederholt, richtig sind sie deshalb nicht.

· "Wir haben schon so viele aufgenommen." Österreich hat seit der großen Fluchtbewegung 2015 137.668 Menschen aufgenommen, gleichzeitig sind 18.433 Menschen in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt, ergibt 119.235 Flüchtlinge (1,3 Prozent der Bevölkerung). 2016 hat die damalige Bundesregierung noch 1,5 Prozent als verträgliche Obergrenze festgelegt – wären heute 133.500 Menschen. Österreich hat Platz! Man muss es nur wollen.

· "Aufnahme würde einen 'Pull-Effekt' auslösen." Für den "Pull-Faktor" gibt es keinen Nachweis. Nach der Fluchtbewegung 2015/2016 stiegen die Gesamtzahlen der Neuankünfte in der EU über die Mittelmeerroute nicht an, sondern sanken stark – von 373.652 Menschen 2016 auf 123.663 (2019).

Bedeutender ist der "Push-Faktor", also Krieg und Verfolgung in den Herkunftsstaaten, die die Menschen zur Flucht zwingen.

· "Aufnahme von Menschen aus Moria wäre ein falsches Signal in der Migrationspolitik." Die Menschen in Moria sind keine Migrantinnen und Migranten, sondern Flüchtlinge. Geflüchtete fliehen vor Krieg und Verfolgung. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu Migration.

Die meisten Menschen in Griechenland stammen aus Afghanistan und Syrien. Beide Staaten befinden sich im Krieg – in Afghanistan sterben derzeit mehr Menschen an Kriegshandlungen als irgendwo anders auf der Welt.

· "Flüchtlinge sind antisemitisch/ frauenfeindlich." Eine Studie der Israelitischen Kultusgemeinde aus dem Jahr 2019 zeigt, dass nur 31 von insgesamt 550 antisemitischen Vorfällen in diesem Jahr einen muslimischen Hintergrund hatten. Die Vorfälle sind zwar angestiegen, doch hatten sie in überwältigender Mehrheit rechtsextreme Hintergründe. Bei den Vorfällen, die einem muslimischen Hintergrund zugeordnet werden, wird auch nicht differenziert, ob diese von Geflüchteten oder von Österreicherinnen und Österreichern verübt wurden.

Von insgesamt 11.969 positiven Entscheidungen in Asylverfahren durch Österreich im Jahr 2019 waren zu 46 Prozent Frauen (5516) betroffen. Die pauschale Aussage, Flüchtlinge wären frauenfeindlich, kann also auf zumindest 46 Prozent der Geflüchteten gar nicht zutreffen.

· "Flüchtlinge sind kriminell." Seit 2015 hatte Österreich keinen Anstieg am Anteil nichtösterreichischer Täterinnen und Täter zu verzeichnen; insgesamt sank die Kriminalität sogar. Zugenommen haben hingegen die Zahl an Übergriffen gegen Musliminnen und Muslime mit einer Erhöhung von 158 im Jahr 2015 auf 1051 im Jahr 2019 sowie die Anzahl an dokumentierten rassistischen Vorfällen von 927 im Jahr 2015 auf 1950 im Jahr 2019.

· "Österreich hat innerhalb der EU die größte Einbürgerungsquote." Falsch: Österreich hatte 2016 EU-weit die niedrigste Einbürgerungsquote, 2018 die sechstniedrigste. Der Grund: restriktive Gesetze mit teils unüberwindbaren Hürden, jahrelange, mühsame Einbürgerungsverfahren und das Verbot der Doppelstaatsangehörigkeit. Das führt zur demokratiepolitisch bedenklichen Situation, dass in Wien mittlerweile rund ein Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner im Wahlalter nicht wahlberechtigt ist.

· "Hilfe vor Ort ist humaner als Aufnahme." Menschen in Moria befinden sich in einer akuten Notsituation, laut Ärzte ohne Grenzen eskaliert die Lage aktuell völlig. Familien mit Kleinkindern sitzen im Dreck, ohne Zelte, Decken, Nahrung oder Wasser, viele Menschen sind krank, bedroht von Covid und bekommen keine medizinische Hilfe. Griechenland ist völlig überfordert mit der Situation. In Österreich stehen zahlreiche Asylunterkünfte frei.

Hilfe vor Ort ist natürlich ebenso wichtig, wenn aber Österreichs Innenminister 2000 Zelte medienwirksam nach Athen liefert und bis heute kein einziges Zelt auf der Insel Lesbos gesichtet wurde, ist das Symbolpolitik. Außerdem zahlt Österreich aktuell an das UNHCR nur 5,8 Millionen Euro, während Deutschland 335 Millionen Euro, Schweden 90 Millionen Euro und Dänemark 86 Millionen Euro zahlen. Dänemark leistete damit im Verhältnis zur Einwohnerzahl fast achtmal so viel wie Österreich. Die Entwicklung der vergangenen Jahre lässt mich vermuten, dass aktuelle Zusagen, den österreichischen Beitrag nun zu erhöhen, nur aufgrund des öffentlichen Drucks gemacht worden sind. Die Glaubwürdigkeit der Regierung wird dadurch nicht untermauert.

Erinnerung an Haider, Strache

Die verfälschenden Worte und Botschaften der türkisen Regierungspartei erinnern frappant an die hetzerischen Kampagnen von Jörg Haider, Heinz-Christian Strache und Co – und das nur, um die FPÖ-Stimmen zu bekommen. Um diese jedoch in Zukunft zu behalten, werden sie vermutlich auch vor "Ausländer raus"-Rufen bald nicht mehr zurückschrecken. (Ferry Maier, 6.10.2020)