"Ihr werdet nie wieder auf der Westausfahrt aus Wien rausfahren, zum Abschied einen kurzen Blick auf diese türkisen Dächer richten und nicht an den heutigen Lauf denken können. Das garantiere ich euch." Walter Kraus (der Mann mit dem schwarzen Shirt) lachte.

Dann machte er einen Schritt zurück, sagte "Los geht's! Viel Spaß in den nächsten 35 Minuten" und sah mit einem wissenden Lächeln zu, wie sich das kleine Grüppchen daranmachte, die Treppe hinaufzulaufen. "Viel zu schnell", murmelte ich. Kraus nickte. Ja, viel zu schnell, aber da muss jeder, da muss jede eben selbst draufkommen.

Foto: Thomas Rottenberg

Es war der vergangene Donnerstag. Späterer Nachmittag. Es war sonnig, aber doch schon kühl. Dennoch trugen Läuferinnen und Läufer, die da am unteren Ende der Markwardstiege standen, großteils kurz/kurz (also kurze Hosen und Kurzarmshirts) – und bibberten ein bisserl. Aber das, wussten sie und wusste ich, würde nicht lange so bleiben.

Schließlich ist das beim Laufen (und ganz generell beim Sportmachen außerhalb der Hochsommerphasen) fast immer so: Wenn man am Anfang gerade dieses Bisserl friert, hat man dann, wenn man warmgelaufen ist, meist genau richtig viel an.

Foto: www.runtasia.at

Zu viel anzuhaben, das nur nebenbei, ist übrigens einer der klassischen Laufanfängerfehler: Man erstickt dann am und im eigenen Dampf, kommt nicht auf Touren, leidet, und wenn man sich endlich einer der überzähligen Schichten entledigt, ist man drunter schon so nass, dass einem umgehend kalt wird.

Also zieht man das nächste Mal wieder zu viel an. Aber ich schweife ab, denn diesen Fehler machte hier keiner. Und eigentlich soll es hier und heute ja um die Markwardstiege gehen.

Foto: thomas rottenberg

Falls Sie mit diesem Ort, dieser Treppe, nichts verbinden, hier eine dringende Empfehlung: Ändern Sie das. Aber machen Sie sich drauf gefasst, dass Sie mich oder jeden anderen, der Sie zu der steilen Treppe zwischen der Außenseite des Lainzer Tiergartens und den markanten türkisfarbenen Dächern an der Wiener Westausfahrt geschickt hat, hassen und verfluchen werden.

Nur: Das macht nichts – und damit kann ich leben. Denn wie schon John Lydon (aka Johnny Rotten, der Sänger der Sex Pistols) einst postulierte: "Anger is an energy." Und Energie brauchen Sie, wenn Sie hier laufen wollen: Schon das Gehen kann hier was.

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Denn die Markwardstiege ist lang. Bis zur Mitte führt eine Autozufahrt – vermutlich die steilste Straße Wiens. Das nur nebenbei. Die Treppe hat 438 Stufen, angeblich. Denn darüber, ob man die oberste oder den Absatz oder die Zwischenabsätze voll, gar nicht oder doppelt mitzählt, könnte man trefflich streiten. Wenn man noch streiten könnte, wenn man hier am letzten Drücker und mit allerletzter Kraft raufrennt. Oder glaubt zu rennen, während man in Wirklichkeit kriecht. Oder dann, nachdem man oben umgedreht hat und genau keinen Blick für den Panoramablick hinüber zur Steinhofkirche und über die Stadt hat, beim Runterrennen nur auf eines achten kann: nicht stolpern.

Da kann man in der Regel nicht nur nicht streiten, sondern auch nicht zählen: Die Markwardstiege hat viele Stufen. Punkt. Und mit jedem Mal, wo man sie raufrennt, werden es mehr. Doppelpunkt.

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Wieso die Markwardstiege Markwardstiege heißt? Ich habe keinen blassen Schimmer. Also: Ja, sie heißt Markwardstiege, weil sie am 9. Jänner 1973 im Gemeinderatsausschuss für Kultur so benannt worden ist. Und zwar nach Markward von Hacking, der – so sagt es zumindest das Geschichtewiki der Stadt Wien – "im 12. Jahrhundert als Besitzer der Burg von Hacking erwähnt wird." Aha. Wer nach dem Herrn sucht, wird bei einer schnellen Webrecherche aber nicht fündig: Die Biografen des Mittelalters dürften Wikipedia-Einträge eher schleißig verfasst haben.

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Die Burg von Hacking ist nicht erhalten: Sie wird von alleburgen.de als "verschwundene Burg" geführt. Auf den Kulturgeschichteseiten der Stadt Wien gibt es lediglich Kürzestverweise auf "Hacking I" und "Hacking II" – beide Burgen stehen nicht mehr. Hacking II lag im Hackinger Schlosspark – ein Stück abseits des Lainzer Tiergartens. Hacking I dürfte nahe dem Nikolaitor gestanden sein.

Unten. Aber wir rennen ja gerade die Treppe hinauf. Wieso eigentlich? Und wieso immer wieder?

Foto: www.runtasia.at

Wieso man hier läuft, wieso man hier laufen soll, ist einfach erklärt: weil man kann.

Aber es gibt auch andere, ausführlichere Erklärungen.

Die erste: Weil die Treppe Teil der Strecke ist. Bei "RUL", der legendären Runde "Rund um den Lainzer Tiergarten", ist die Stiege meist der letzte, fast schon erholsamste Part. Zumindest dann, wenn man, wie es die meisten tun, beim Nikolaitor beginnt und gegen den Uhrzeigersinn läuft: Dann kommt am Schluss dieser steile, aber körperlich nicht mehr wirklich anstrengende Part, bei dem man noch einmal den Blick über die Stadt genießen kann. Konzentrieren sollte man sich halt.

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Die zweite Erklärung: Weil der Lauf auf der Treppe Tradition hat. Denn im Jahr 2009 bat Wolfgang Markytan, unter anderem Veranstalter des Wiener Laufcups, zum ersten Mal zum Wettrennen über die Treppe. In Vierer-, Fünfer- und Sechsergruppen ging es von der Erzbischofgasse die 65,5 Höhenmeter zum Carolaweg hinauf.

Der Streckenrekord soll knapp unter einer Minute liegen – im Netz fand ich als beste Zeit allerdings "nur" die Siegerzeit von 2010 (1:11, Rolf Majcen). Das heißt aber nichts, denn anderswo wird der Streckenrekord mit 1:16 auf 2011 datiert – und ebenfalls Rolf Majcen zugeschrieben. Nach dem vierten Markwardstiegenlauf verlieren sich dann allerdings die Wettkampf-Spuren des Stiegenlaufes im Netz.

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Das bedeutet allerdings nicht, dass hier sonst niemand rennt. Ganz im Gegenteil: Die Markwardstiege kennt zwar nicht jeder, aber sie ist wahrlich kein Geheimtipp. Hier läuft, wer es in Wien anspruchsvoll liebt.

Ein Youtuber namens "Luxemburger" (den ich dringend verdächtige, ident mit jenem Läufer zu sein, der auch hinter dem donnerstäglichen "Frühlauftreff Rollover Schönbrunn" steckt) etwa stellte 2016 ein wirklich feines Video vom Stiegenlauf ins Netz.

Und auf der Seite der Dominikanerinnen findet sich ein Bericht darüber, wie Schülerinnen der katholischen Privatschule 2014 "(fast) ohne Murren … meinen tollkühnen und gewagten Vorschlag akzeptierten, einen Lauf zur und hinauf auf die Markwardstiege zu machen".

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Auch heute ist man hier alles andere als allein: Läufer, Powerwalker, Spaziergänger und Radfahrer (die immer nur bergab und meist, aber nicht immer, neben der Treppe) trifft man hier zuhauf. Einmal kam mir auch einer auf der Enduro ("Elektromotor – sonst killen mich die Anrainer!") die Stiegen hinauf entgegen.

Und dann gibt es eben auch noch Walter Kraus und sein Runtasia-Lauflabel: Kraus lädt seine Schützlinge regelmäßig ein, hier gemeinsam rauf und runter zu rennen. Dieses Frühjahr Corona-Lockdown-Gruppentrainingsverbots-bedingt nicht, aber jetzt eben wieder.

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Einfach nur, um sich die Kante zu geben, erklärt der Sportwissenschafter, "verordnet" er seinen Läuferinnen und Läufern die 35 Minuten nonstop Stiegenlaufen aber nicht: "Stiegenlaufen ist ein perfektes laufspezifisches Krafttraining, weil man beim Bergauflaufen viele Muskelgruppen anders anspricht und manche aktiviert, die beim Laufen in der Ebene sonst wenig bis gar nicht arbeiten müssen", erklärt er.

Der Vorteil der Stiegen gegenüber dem "echten" Bergauflaufen sei, dass der Fuß trotz der Hebearbeit immer flach aufgesetzt werde – was vielen Läuferinnen und Läufern Beschwerden in Wade oder Achillessehne erspart.

Foto: thomas rottenberg

Einfach und locker sei das Stiegenlaufen aber trotzdem nicht: "Einmal die Treppe rauf sind 200 kleine Kniebeugen für jedes Bein. Das ist eine massive mechanische Belastung und geht höllisch rein. Vor allem, wenn man es öfter macht."

Der Versuchung, jede zweite Stufe zu nehmen, rät Kraus aber "möglichst zu widerstehen": Am Anfang fühlt es sich leichter an, aber die Hebearbeit bleibt in Summe ja gleich, der einzelne Schritt ist allerdings schwerer. Das schlägt sich auf Puls und Puste – und spätestens beim dritten Anstieg kommen Menschen, die ein bisserl weniger sportlich sind als Beatrix, die Dame im Bild, (sie flog sieben- oder achtmal hinauf) dann laufend nicht mal mehr bis zur Mitte.

Foto: thomas rottenberg

Wie sich der Lauf, die 35 Minuten, denn anfühlte? Genau so, wie erwartet: Obwohl ich mit angezogener Handbremse gestartet war, war ich natürlich zu schnell unterwegs. Dafür bezahlte ich dann schon auf den letzten Stufen des ersten Anstieges.

Runter war dann "Erholung". der zweite Anstieg tat schon ein bisserl weh, beim dritten verfluchte ich Kraus, beim vierten Markward von Hacking und all seine Nachfahren – und beim fünften hätte ich mich selbst verflucht und auch entmündigen lassen, aber außer "weiterkrabbeln" konnte ich keinen Gedanken mehr fassen. Einen sechsten Anstieg schaffte ich innerhalb von Kraus' 35 Minuten dann nur mehr zur Hälfte – und war unmittelbar danach genau zu einem Gedanken fähig: Morgen starte ich eine Petition für einen Sessellift.

Foto: Walter Kraus

Warum? Das ist eine ganz andere Geschichte.

Und sie hat mit der Annahme zu tun, dass eine der Wiener Skisprungschanzen einst hier stand. Tat sie nicht, aber man könnte drüber nachdenken.

Oder aber hier das tun, was, während man es tut, ein klein wenig gestört wirkt – sich danach aber super anfühlt: hier immer wieder rauf und runter laufen. (Tom Rottenberg, 7.10.2020)

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