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Wien – "Was war das für ein verrückter Tag?", will Claudia Zöllner, Vorsitzende des Schöffengerichts, vom Angeklagten Alexander F. wissen. "Ich hatte Stress. Wegen der Sache mit den Alimenten und der Arbeitssuche", erläutert der 36-Jährige. Also frönte der Floridsdorfer am 8. Juli in Deutsch-Wagram dem schon von Wilhelm Busch beschriebenen Brauch zur Sorgenreduktion: Er trank sieben bis zehn Bier, einige Jägermeister und Cola-Whisky. Was an sich noch nicht strafbar wäre. Da er danach allerdings auf der Heimfahrt einen Schaffner nötigte und attackierte, ist er nun wegen versuchter absichtlicher schwerer Körperverletzung vor Gericht.

Die "Sache mit den Alimenten" hat dem Arbeitslosen bereits eine Vorstrafe eingebracht, da er den Unterhalt nicht gezahlt hat. Einer der Gründe, warum F., wie Verteidiger Lukas Hruby ausführt, am Tattag "verzweifelt" gewesen ist. Eine Rolle spielt in der Sache auch, dass der ÖBB-Zug, der den Angeklagten in heimische Gefilde bringen sollte, wegen einer Baustelle über Stadlau und Simmering geführt wurde.

Erst gedroht, dann geschlagen

Zeuge Zoltan T. war am fraglichen späten Abend der Zugbegleiter und entdeckte F. ohne Maske in seinem Sitzabteil. Der Hinweis auf die Pflicht zum Mund-Nasen-Schutz wurde mit "Wennst ned glei weidagehst, schlag ich dich brutal zusammen!" quittiert, wirft Staatsanwältin Julia Johnson dem Angeklagten vor.

Der sagt, er kann sich nur bruchstückhaft erinnern. "Ich habe nur die Fetzen im Kopf", drückt er es aus. Er wisse noch von einem Streit mit dem Schaffner und dass er diesem "zwei Watschen" gegeben habe. Ob er einen MNS getragen habe, kann er nicht mehr sagen.

Laut Zugbegleiter war es nicht nur der Unmut über die Maske, sondern auch die Umleitung, die F. auf die Palme gebracht hat. "Er hat gesagt, ich soll dafür sorgen, dass der Zug stehen bleibt", schildert der Zeuge. "Er habe ein gültiges Ticket und will nach Floridsdorf", habe der Angeklagte insistiert.

Der Zugbegleiter zog sich zurück, F. folgte ihm und wurde immer rabiater. Schließlich folgte der körperliche Angriff, als das Opfer zu Boden fiel, habe der Angeklagten noch mehrmals hingetreten, ehe sich ein anderer Fahrgast einmischte. Die Folgen: eine leicht blutende Wunde im Gesicht, Prellungen und eine minimale Absplitterung der Schneidezähne. T., der wegen des Vorfalls lange im Krankenstand war und noch immer in psychotherapeutischer Behandlung ist, will als Schmerzensgeld 4.000 Euro, die Bundesbahn hat sich mit exakt 4.843,62 Euro dem Verfahren angeschlossen.

Arbeitsloser mit 80.000 Euro Schulden

Der Angeklagte, der aus einem gescheiterten Gastronomieabenteuer zehntausende Euro Schulden hat, ist bereit, seinem Opfer 2.000 Euro zu zahlen. 200 Euro übergibt er mitsamt einer Entschuldigung gleich im Gerichtssaal. Verteidiger Hruby betont auch im Schlussplädoyer, dass es sich um keine absichtlich schwere Körperverletzung gehandelt habe und es ein "einmaliger Fehltritt" gewesen sei.

"Was ist die Lehre aus der Geschichte?", will Vorsitzende Zöllner von F. noch wissen. Der sagt nicht, künftig auf Zugfahrten verzichten zu wollen, sondern: "Dass ich gar nix mehr trinke." Der Senat folgt der Einschätzung des Verteidigers und verhängt 14 Monate bedingt für versuchte schwere Körperverletzung, der ÖBB wird der volle Schadenersatz zugesprochen, dem Zugbegleiter die 2.000 Euro. Während der Angeklagte das Urteil akzeptiert, gibt Staatsanwältin Johnson keine Erklärung ab, die Entscheidung ist daher nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 6.10.2020)