Die dritte Entscheidung der Nobelpreiswoche 2020 ist gefallen: Der diesjährige Chemienobelpreis geht an die Französin Emanuelle Charpentier und die US-Amerikanerin Jennifer Doudna für die Entwicklung der Gen-Schere CRISPR/Cas9. Das teilte das Nobelkomitee der Königlich Schwedischen Akademie am Mittwochmittag in Stockholm mit. Die beiden Forscherinnen galten seit mehreren Jahren als Favoritinnen für den Nobelpreis – offen war allerdings, ob sie ihn für Chemie oder Medizin bekommen würden.

Die Preisträgerinnen Emmanuelle Charpentier (links) und Jennifer Doudna.
Foto: AFP/Miguel RIOPA

Molekularbiologische Revolution

Kaum eine Technik der Molekularbiologie hat in den vergangenen Jahren für so viel Aufsehen gesorgt wie die Gen-Schere CRISPR/Cas9. Die Methode ermöglicht es Wissenschaftern, so präzise, schnell und billig wie nie zuvor das Erbgut von Lebewesen zu verändern. Charpentier sagte in einer ersten Reaktion am Mittwoch: "Sehr bald nach der Publikation 2011 war klar, dass diese Entdeckung eines Tages mit dem Nobelpreis ausgezeichnet werden könnte. Als Hansson (Generalsekretär der Königlich Schwedischen Akademie, Anm.) mich diesen Morgen anrief, war ich wirklich sehr berührt."

Charpentier (Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene) und Doudna (University of California, Berkeley, USA) haben mit der Gen-Schere eines der schärfsten Werkzeuge der Gentechnologie entdeckt, begründet das Nobelkomitee seine Entscheidung. Damit können Forscher die DNA von Tieren, Pflanzen oder Mikroorganismen mit extrem hoher Präzision verändern. Diese Technologie habe einen revolutionären Einfluss auf die Biowissenschaften gehabt, trage unter anderem zu neuen Krebstherapien bei und könnte den Traum von der Heilung von Erbkrankheiten wahr werden lassen.

Seit dem von Charpentier und Doudna erzielten Durchbruch seien die Anwendungen der Gen-Schere geradezu explodiert, so das Komitee. Dieses Werkzeug habe zu wichtigen Entdeckungen in der Grundlagenforschung beigetragen und zugleich vielfältige praktische Anwendungsmöglichkeiten hervorgebracht – von der Züchtung von Pflanzen, die Schimmel, Schädlingen und Dürre standhalten, bis zu klinischen Studien mit neuen Krebstherapien. Die Gen-Schere habe die Biowissenschaften in eine neue Epoche geführt und bringe der Menschheit in vielerlei Hinsicht größten Nutzen.

Das Prinzip der Gen-Schere

CRISPR/Cas9 basiert auf der Immunabwehr verschiedener Bakterien und Archaeen gegen Viren. Wird ein Bakterium erstmals von einem Virus angegriffen, schneiden sogenannte Cas-Enzyme dessen DNA in kleine Stückchen. Diese Fremd-DNA-Stücke werden dann in bestimmte sich wiederholende Abschnitte des Bakteriengenoms eingefügt, die sogenannten CRISPR-Abschnitte. Sie dienen als eine Art Archiv: Kommt es später erneut zu einer Infektion durch das Virus, wird dessen DNA sofort erkannt – und zerstört.

DER STANDARD

Mithilfe dieses Systems "erinnern" sich Bakterien also an Viren, die sie schon einmal angegriffen haben, und schützen sich vor neuen Infektionen. Eine wichtige Rolle kommt nun dem Enzym Cas9 zu: Es verwendet RNA-Moleküle, die aus den feindlichen DNA-Stückchen transkribiert wurden, um zielgerichtet die virale DNA zu finden und zu schneiden, nicht aber die zelleigene DNA. RNA ist so etwas wie der chemische Cousin der DNA, hat jedoch ganz andere Aufgaben: Sie kommt in vielen unterschiedlichen Typen vor und ist unter anderem für die Übertragung genetischer Informationen zuständig. Identifiziert Cas9 eine virale DNA-Sequenz, die genau zur transkribierten Führungs-RNA passt, wird diese erkannt und zerschnitten. Nach diesem Vorbild entwickelten Charpentier und Doudna die Gen-Schere.

Forschungsarbeiten in Wien

Charpentier, geboren 1968 in Juvisy-sur-Orge, nahm in ihrer Stellungnahme bei der Bekanntgabe des Nobelpreises immer wieder auf Wien und Österreich Bezug, wo ihr die grundlegenden Arbeiten zur Entwicklung der Gen-Schere gelangen. Nach ihrem Studium an der Universität Pierre und Marie Curie in Paris und Forschungsaufenthalten in New York war sie 2002 an die Max F. Perutz Laboratories in Wien gegangen. Dort war sie Gruppenleiterin, sah aber nach gut sieben Jahren für sich keine Zukunftsperspektive mehr, obwohl sie das Vienna Biocenter, den Standort der Perutz Labs, bis heute als hochinnovativen Wissenschaftsort lobt.

Die Gründe, Wien 2009 in Richtung Schweden zu verlassen, wo sie mehrere Jahre an der Universität Umeå tätig war, thematisierte Charpentier auch bei der Nobelpreis-Pressekonferenz am Mittwoch: "Als ich meinen Kollegen in Wien und Freunden erzählte, dass ich eine Stelle in Schweden annehmen würde, fragten mich viele, ob ich mir sicher sei. Aber das Angebot aus Schweden passte zu dieser Zeit in meinen Karrierepfad, auch wenn es eine große Umstellung in meinem persönlichen Leben bedeutete."

Fehlende Unterstützung

Die österreichische Molekularbiologin Renée Schroeder sagte nach der Bekanntgabe des Nobelpreises zum STANDARD, Charpentier sei von den Wissenschaftern und vor allem vom ehemaligen Direktor der Max F. Perutz Labs, Graham Warren, zu wenig unterstützt worden. Warren habe die Vision gefehlt, einer jungen Forscherin, die einen neuen Ansatz verfolgte, eine langfristige Chance zu geben. Im Wunsch, mögliche Kettenverträge zu verhindern, sei er darauf bedacht gewesen, wenig bekannte, junge Wissenschafter und Wissenschafterinnen zu holen – und nach Vertragsende auch wieder gehen zu lassen. Charpentier habe letztlich auch nicht mehr in Wien bleiben wollen, "obwohl sie sich in der Community selbst recht wohl gefühlt hat". Schroeder meint auch, dass es damals realistischerweise noch nicht absehbar gewesen sei, welches Potenzial in ihrer Forschung steckte.

Warren selbst sieht das natürlich anders. "Bei meiner Ankunft in Wien sah ich das Fehlen einer Karrierestruktur für junge Wissenschafter", lässt er dem STANDARD ausrichten. "Meine Vision war, ein Tenure-Track-System mit einem leistungsabhängigen internationalen Rekrutierungssystem einzuführen. Angesichts einer unabhängigen Einschätzung und ihres Potenzials bot ich Emmanuelle die Möglichkeit, daran teilzunehmen, aber sie zog es vor, nach Umeå mit seinem starken mikrobiologischen Hintergrund zu ziehen. Die Perutz-Labs unterstützten Emmanuelle dennoch, indem sie ihren StudentInnen, die nicht mit ihr umziehen wollten, Raum gaben. Einer von ihnen, Krzysztof Chylinski, führte Arbeiten durch, die zu der Publikation führten, für die nun der Nobelpreis vergeben wird."

2013 wechselte Charpentier erneut – damals an die Medizinische Hochschule Hannover, ehe sie 2015 Direktorin des Berliner Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie wurde. Seit 2018 ist sie Gründungsdirektorin der unabhängigen Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene.

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Die Gen-Schere CRISPR/Cas9 erlaubt präzise Eingriffe ins Erbgut.
Foto: getty

Folgenreiche Veröffentlichung

Doudna, geboren 1964 in Washington, D.C. dissertierte 1989 an der Harvard Medical School und arbeitete als Postdoktorandin zunächst an der University of Colorado. 1994 wurde sie Professorin in Yale, wo sie 2000 auch eine ordentliche Professur erhielt. 2003 wechselte sie an die University of California in Berkeley, zudem arbeitet sie für das Howard Hughes Medical Institute und das Lawrence Berkeley National Laboratory.

2011 traf sie auf einer Konferenz zum ersten Mal auf Charpentier – eine Begegnung, die Geschichte schreiben sollte. Gemeinsam mit Charpentier und Kollegen, darunter Krzysztof Chylinski von den Max Perutz Labs Vienna, veröffentlichte Doudna 2012 die wissenschaftliche Grundlage für die Gen-Schere unter dem Titel "A Programmable Dual-RNA–Guided DNA Endonuclease in Adaptive Bacterial Immunity" im Fachblatt "Science".

Die Auszeichnung von Charpentier und Doudna ist der erste an zwei Frauen vergebene Nobelpreis in seiner über 100-jährigen Geschichte: "Ich hoffe, dass das eine positive Botschaft an die jungen Frauen sendet, die dem Weg der Wissenschaft folgen wollen, und ihnen zeigt, dass auch Frauen in der Wissenschaft Großes leisten können", sagte Charpentier.

Wissenschaftlicher Patentstreit

Charpentier und Doudna waren bereits in früheren Jahren immer wieder für den Chemie- oder Medizinnobelpreis im Gespräch. Was ihrer Auszeichnung im Weg zu stehen schien, ist ein seit Jahren anhaltender Patentstreit zwischen den beiden CRISPR-Erfinderinnen und Feng Zhang, der die Gen-Schere erstmals am Menschen anwendete.

Die weiteren Preisträger

Damit stehen alle diesjährigen Laureaten in den naturwissenschaftlichen Kategorien fest: Am Montag erhielten die US-Amerikaner Harvey J. Alter und Charles M. Rice sowie der Brite Michael Houghton den Medizinnobelpreis für die Entdeckung des Hepatitis-C-Virus. Am Dienstag wurden der Brite Roger Penrose, der Deutsche Reinhard Genzel und die US-Amerikanerin Andrea Ghez für ihre Forschungsarbeiten zu Schwarzen Löchern mit dem Physiknobelpreis belohnt.

Am Donnerstag steht die Verkündung des Literaturnobelpreises auf dem Programm, am Freitag folgt der Friedensnobelpreis. Das Ende kommt traditionell nächsten Montag mit dem Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften der Schwedischen Reichsbank. Der ist zwar kein eigentlicher Nobelpreis, aber gleich hoch dotiert: nämlich mit zehn Millionen schwedischen Kronen (rund 950.000 Euro), einer Million mehr als im Vorjahr. (dare, trat, jdo, pi, 7.10.2020)