Für die Wespe gibt es kein Entkommen mehr. Ihr Zappeln löst die Ausschüttung von Verdauungsenzymen aus, die die Beute zersetzen.
Foto: imago/Nature Picture Library

Zahlen sind keine alleine dem Menschen vorbehaltene Domäne. Verschiedene Studien haben in der Vergangenheit gezeigt, dass auch Tiere zur Unterscheidung von Mengen in der Lage sind. Manche Spezies, darunter beispielsweise Schimpansen, besitzen sogar einfache mathematische Fähigkeiten. Verblüffenderweise haben aber auch Pflanzen eine Art Zahlensinn: Ein Team um den Biophysiker Rainer Hedrich von der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg hat im Jahr 2016 nachgewiesen, dass die fleischfressende Venusfliegenfalle (Dionaea muscipula) bis fünf zählen kann. Wie das Kurzzeitgedächtnis und die Zählweise dieser ungewöhnlichen Pflanze funktionieren, erklären die Forscher um Hedrich und den Entwicklungsbiologen Mitsuyasu Hasebe von der Universität Okazaki nun im Fachjournal "Nature Plants".

Bei zwei Berührungen schnappt die Falle zu

Berührt ein Beutetier eines der Sinneshaare auf der inneren Fallenseite von Dionaea, wird der mechanische Reiz in ein elektrisches Signal umgewandelt. Dieses sogenannte Aktionspotential breitet sich über die gesamte Falle aus. Als Reaktion darauf passiert zunächst einmal nichts. Wenn aber innerhalb von 30 Sekunden ein zweites Aktionspotential die Falle elektrisch erregt, schnappt sie zu. Lässt dagegen der zweite Reiz länger auf sich warten, wird das erste Aktionspotential aus dem Kurzzeitgedächtnis der Venusfliegenfalle gelöscht.

Das molekulare Gedächtnis der Fliegenfalle könnte auf einer zellulären Kalziumuhr beruhen – diese Möglichkeit diskutierten Rainer Hedrich und der Göttinger Nobelpreisträger und Neurobiophysiker Erwin Neher schon 2018 in einem Übersichtsartikel. Aber wie lässt sich nachweisen, dass das Gedächtnis der Fliegenfalle für elektrische Wellen etwas mit der Erzeugung und Speicherung von Kalzium zu tun hat? "Indem man der Pflanze einen Kalziumsensor einbaut", sagt Hedrich. Dieses gentechnisch erzeugte Protein leuchtet auf, wenn die zelluläre Kalziumkonzentration einen kritischen Wert überschreitet.

Die Berührung der Sinneshaare auf der Innenseite der Venusfliegenfalle durch ein Beutetier löst ein Aktionspotential aus.
Fotos: Sönke Scherzer / Universität Würzburg

Derartige Kalziumsensoren wurden bei Tieren und Pflanzen bereits erfolgreich eingesetzt, um Kalziumsignale zu erforschen. Das klappte jetzt auch bei Dionaea. Nachdem Hasebe und Hedrich im Juni 2020 das Genom der Venusfliegenfalle und zweier naher Verwandter entschlüsselt hatte, gelang es ihnen, den Kalziumsensor GCAMP in das Fallengewebe einzuschleusen. Aus dem Gewebe ließen sich funktionsfähige Venusfliegenfallen regenerieren – "das war der entscheidende Schritt hin zur Testung unserer Hypothese der Kalziumuhr", erklärt Hedrich.

Kalziumwellen wandern durch den Fangapparat

Experimente mit den sensorbestückten Pflanzen zeigten: Wird ein Sinneshaar berührt, erhöht sich blitzartig der Kalziumspiegel in den Zellen im Fuß des Sinneshaars und breitet sich als Welle über die gesamte Falle aus. Das passiert auf jeden einzelnen Reiz hin. Wie bei jeder Welle handelt es sich aber um eine zeitlich befristete Erscheinung: Innerhalb weniger Sekunden nach der Berührung erreicht die Kalziumwelle ihren Höhepunkt. Nach einer Minute ist sie weitestgehend abgeebbt.

Was passiert, wenn ein Sinneshaar zweimal hintereinander gereizt wird? Dann werden getrennt voneinander zwei Aktionspotentiale auf die Reise geschickt. Das erste bringt – wie erwartet – eine Erhöhung des zellulären Kalziumspiegels mit sich. Trifft das zweite ein, bevor der Kalziumspiegel auf seinen Ruhewert gefallen ist, überlagern sich die beiden Signale. Dadurch wird eine Schwelle überschritten, was kalziumabhängige Prozesse in Gang setzt, die wiederum die Falle zuklappen lassen, so Hedrich.

Bis zwei zählen

"Die elektrische Erregung der Fallenzellen wird also in eine Konzentrationserhöhung von Kalzium übersetzt. Damit wird das vorbeiziehende Aktionspotential quasi in den elektrisch erregten Fallenzellen gespeichert. Kommt ein weiteres Aktionspotential, wird sein Kalziumwert dem ersten Signal hinzugefügt. Über diese Kalziumuhr kann die Venusfliegenfalle die Zahl der berührungsreizbedingten Aktionspotentiale zählen", erklärt Hedrich.

Diese elektrische Information wird in eine chemische Kalziumwelle übersetzt. Die kritische Kalziumkonzentration, die den Fallenschluss initiiert, wird allerdings erst überschritten, wenn zwei Aktionspotentiale kurz hintereinander ausgelöst werden.
Foto/Grafik: Sönke Scherzer / Universität Würzburg

Wenn das zweite Aktionspotential allerdings erst eintrifft, nachdem die erste Kalziumwelle abgeebbt ist, geht die Fliegenfalle nicht zu. Ist nun die Zahl der Aktionspotentiale für den Fallenschluss verantwortlich oder das Überschreiten der Kalziumschwelle? Im Würzburger Labor konnte gezeigt werden, dass nach 30 Sekunden ein zweites Aktionspotential zwar nicht die Falle schließt, aber eine kurz darauffolgende elektrische Erregung. Dieses Vorgehen wurde im Hasebe-Labor genutzt, um das Verhalten des Kalziumspiegels zu untersuchen. Das Ergebnis war eindeutig: Mit dem verspäteten zweiten Reiz erhöhte sich der Kalziumspiegel zwar, blieb aber unterschwellig. Mit dem dritten Reiz wurde die Schwelle für das Auslösen der Falle überschritten.

Berührungshormon hilft beim Zählen bis fünf

"Unsere Befunde zeigen, dass das Kurzzeitgedächtnis und die Fähigkeit, bis zwei zu zählen, auf der Kalziumuhr beruhen", sagt Hedrich. Die Venusfliegenfalle kann aber weiterzählen. Als Reaktion auf nachfolgende Aktionspotentiale kurbelt sie die Biosynthese des Berührungshormons Jasmonat an. Ab der fünften elektrischen Erregung produziert sie Verdauungsenzyme, die die Beute zersetzen sollen, und bringt Transportproteine in Stellung, um sich die nährstoffreiche tierische Mahlzeit einzuverleiben.

In diesem Zusammenhang stellen sich die Forschungsgruppen als nächstes der Frage, ob und wie die Kalziumuhr bis fünf zählt. Dabei ist zu klären, ob die Zellen, die auf die Aktionspotentiale Nummer eins und zwei reagieren, sich von denen unterscheiden, die erst bei Nummer drei, vier oder fünf in Aktion treten. "Weiterhin wollen wir wissen, wie die unterschiedlichen kalziumabhängigen Prozesse nach dem Überschreiten der jeweiligen Kalziumschwelle angesteuert werden", so der Würzburger Professor. "Unser vorrangiges Interesse gilt den Kalziumkanälen, die durch das Aktionspotential geöffnet werden, und dem Vorgang, bei dem das Kalziumsignal in das Berührungshormon Jasmonat übersetzt wird." (red, 6.10.2020)