Die Massenproteste im Zentrum von Bischkek.

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Wieder einmal schlagen Flammen und Rauch aus dem Weißen Haus in Bischkek, das gleichzeitig dem Parlament und der Präsidialadministration als Sitz dient. Wie 2005 bei der sogenannten Tulpenrevolution, die den ersten Präsidenten des Landes, Askar Akajew, hinweggefegt hat, und wie 2010 beim schon namenlosen, aber noch blutigeren Sturz seines Nachfolgers Kurmanbek Bakijew.

Auch diesmal gibt es Tote und Verletzte. Medien berichten, dass die Unruhen nach einer Massendemonstration der Opposition begannen. Die Polizei setzte Wasserwerfer, Rauchbomben und sogar Gummigeschoße ein, vonseiten der Demonstranten flogen Steine und Molotow-Cocktails. Bei den Auseinandersetzungen wurden 600 Personen verletzt, mindestens ein Mann starb.

Forderung nach Neuwahlen

Der Protest richtet sich gegen die Ergebnisse der jüngsten Parlamentswahl: Bei der Abstimmung erhielten die zwei obrigkeitstreuen Parteien Birimdik (etwa: Partei des demokratischen Sozialismus) und Mekenim Kirgisistan (Meine Heimat Kirgisistan) 46 beziehungsweise 45 Mandate. Daneben zogen noch die beiden zentristischen Parteien Kirgisistan und Butun Kirgisistan (Vereinigtes Kirgisistan) mit 16 und 13 Abgeordneten ins Parlament ein, die übrigen zwölf Parteien gingen leer aus.

Zu den Wahlverlierern zählen damit auch die Sozialdemokraten des wegen Korruption in Haft sitzenden Ex-Präsidenten Almasbek Atambajew, die bei der vorangegangenen Wahl noch stärkste Kraft waren. Ihre wahre Stärke demonstrierten sie nun auf der Straße mit der Forderung nach Neuwahlen wegen mutmaßlicher Fälschungen und Stimmenkaufs.

Sturz des Präsidenten in greifbarer Nähe

Zumindest vorläufig hat sich die Opposition als stärker denn die regierungstreuen Kräfte erwiesen – denn den Protestierenden gelang es nicht nur, das Parlament, sondern auch die Geheimdienstzentrale zu stürmen und zugleich auch Atambajew aus dem Gefängnis zu befreien.

Damit ist der Sturz seines Nachfolgers Soronbai Schejenbekow in greifbare Nähe gerückt. Schejenbekow musste bereits auf Kompromisssuche gehen. So hat er die Möglichkeit von Neuwahlen eingeräumt und eine gründliche Untersuchung der Wahlen angeordnet. Die Wahlkommission erklärte daraufhin die Abstimmung für ungültig.

Rücktrittswelle von Bürgermeistern

Die Unterstützung auf administrativer Ebene bricht für Schejenbekow rapide zusammen. So hat der Bürgermeister von Bischkek bereits seinen Rücktritt erklärt. Seinem Beispiel folgten die Bürgermeister einer ganzen Reihe von Städten, darunter auch von Osch und Dschalal-Abad, der zweit- und drittgrößten Stadt des Landes.

Der kasachische Politologe Marat Schibutow erklärte gar, Schejenbekow sei politisch am Ende. Nach dem Sturm der Geheimdienstzentrale sei klar geworden, dass er die Unterstützung der Sicherheitsorgane verloren habe. "Er wird Parlamentsneuwahlen erklären und zurücktreten, denn niemand hört mehr auf ihn. Die politische Karriere Schejenbekows ist beendet."

Machtkampf zweier Präsidenten

Der Moskauer Zentralasienexperte Arkadi Dubnow ist nicht ganz so kategorisch. Seiner Ansicht nach kann Schejenbekow mit der Annullierung der Wahl die Lage noch herumreißen und die Kontrolle wiedererlangen.

Allerdings dürfte der Machtkampf mit seinem Vorgänger Atambajew neu aufbrechen. Dieser hatte 2017 als erster Präsident in Kirgisistan zumindest formal freiwillig seine Macht und das Amt abgegeben, geriet aber später wegen ständiger Einmischung in die Regierungsgeschäfte trotzdem in massiven Konflikt mit Schejenbekow. In der Folge verlor Atambajew zunächst seine politische Immunität und dann nach einer Verurteilung zu elf Jahren und zwei Monaten wegen Korruption auch seine Freiheit. Nun – nachdem ihn seine Anhänger ohnehin aus dem Gefängnis befreit haben – hat ein Gericht im Eilverfahren die Freiheitsstrafe zumindest erst einmal in Hausarrest abgemildert.

Opposition ersetzt Premier

Für Schejenbekow wird es nun schwer, sich an der Macht zu halten. Er musste bereits mögliche Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung einräumen, die daraufhin von der Wahlkommission annulliert wurde. Die schwindende Unterstützung aus dem administrativen Apparat wird auch in dem Rücktritt der Bürgermeister deutlich. Am Abend trat dann auch Premier Kubatbek Boronow zurück, als Nachfolger wählte das Parlament den Oppositionellen Sadyr Zhaparow. Aus Schejenbekows Lager heißt es, der Präsident habe die Situation im Land "völlig unter Kontrolle" – das aber sah am Abend immer unrealistischer aus. (red, André Ballin, 6.10.2020)