Österreichisches Deutsch im Rahmen einer Kunstaktion am Wiener Westbahnhof von 2010.

Foto: Robert Newald

Deutschland und Österreich trennt die gemeinsame Sprache, lautet ein beliebter Spruch. Aber ist es tatsächlich noch eine gemeinsame Sprache? Die Frage soll in der Debatte über eine österreichische Standardsprache – früher hätte man "Hochsprache" gesagt – beantwortet werden. Stefan Dollinger ist Anglistik-Professor in Vancouver und beschäftigt sich mit kanadischem Englisch. Er zieht Parallelen zur Situation in Österreich.

STANDARD: In Deutschland glauben viele, Wörter wie "heuer" markieren den österreichischen Dialekt. Doch Sie sagen, das ist mehr als Dialekt, es ist Teil einer Standardsprache. Warum?

Stefan Dollinger: "Heuer" ist in Österreich ein Standardvokabel, das alle Modellsprecher, etwa Armin Wolf in der ZiB 2, selbstverständlich verwenden. Es gehört eindeutig zum österreichischen Standarddeutsch. Das österreichische Deutsch nur als Dialekt wie das Bayrische oder das Baden-Württembergische zu nehmen würde einer Abwertung entsprechen. Man kann nicht so tun wie im 19. Jahrhundert und sagen, der deutsche Duden, der eine monolithische Standardsprache vertritt, regelt das für Österreich. Man muss das, was die Menschen sagen und denken, zur Grundlage nehmen. Befragungen unter Schülern und Lehrern zeigen, dass längst in zwei Standards gedacht wird.

STANDARD: Österreichisch ist doch auch alles andere als einheitlich.

Dollinger: Armin Wolf spricht im TV als Tiroler auch eine österreichische Standardsprache. Es gibt drei Ebenen: Wir haben regionale Dialekte, dann gibt es eine österreichische Umgangssprache, und wir haben eine österreichische Standardsprache. Es stimmt, dass die Oberösterreicher sprachlich etwas mehr mit den Bayern gemeinsam haben als mit den Vorarlbergern. Nimmt man das als Argument gegen eine Standardsprache, dann dürfte es aber nirgendwo eine geben. Standardsprache ist nie "natürlich", sondern immer ein soziopolitisches Gebilde.

"In Österreich gibt es das Phänomen der linguistischen Unsicherheit", sagt Stefan Dollinger.

STANDARD: Aber warum braucht die Sprache überhaupt einen nationalen Rahmen als Referenz?

Dollinger: Der Linguist Max Weinreich sagte sinngemäß, dass eine Sprache nur ein Dialekt mit einer Armee ist. Das stimmt noch immer. Es gibt nicht nur verschiedene Dialekte und Umgangssprachen, auch die Standardsprache kann sich diversifizieren. Das hängt oft mit dem nationalstaatlichen Rahmen zusammen. Das Niederländische hat sich um 1.500 vom Deutschen abgespalten, das Luxemburgische galt ab 1945 nicht mehr als deutscher Dialekt, sondern als eigener Standard. Norwegisch ist eine Abspaltung des Schwedisch-Dänischen, dennoch sagt kein Schwede, dass Norwegisch keine eigene Sprache sei. Diese Diversifizierung findet ständig statt. Auch in Österreich. Hier wird sie aber nicht ausreichend anerkannt.

STANDARD: Welche Gründe hat das?

Dollinger: Das liegt an der akademischen Germanistik. Es wurde zwar schon ab 1951 ein eigener Standard im Österreichischen Wörterbuch kodifiziert. Dennoch gab es in der Germanistik immer Widerstand dagegen, den eigenen Standard zu vertreten. Das hat auch mit der Vergangenheit des Dritten Reichs zu tun. In Deutschland, wo viele Menschen monodialektal aufwachsen, versteht man das Bemühen um einen österreichischen Standard kaum. Das ist eigentlich eine sprachkoloniale Sichtweise. In Österreich gibt es dagegen das Phänomen der linguistischen Unsicherheit. In der Schule hört man vom Lehrer "Schön sprechen!", und gemeint ist die deutsche Standardsprache. Das hat zur Folge, dass die Österreicher glauben, dass der ZDF-Sprecher intelligenter klingt als Armin Wolf, wenn auch weniger sympathisch.

STANDARD: Globalisierung und EU-Integration lassen nationale Grenzen verblassen. Durch internationale Kontakte gleichen sich Sprachformen an. Ist der nationale Bezug nicht veraltet?

Dollinger: Gerade wenn die Grenzen fallen, werden diese symbolischen Marker wichtiger. Wenn wir in der EU besser zusammenleben wollen, müssen wir darauf achten, dass wir die Eigenarten der jeweiligen Länder berücksichtigen. Da gehört auch die Sprache dazu. Ansonsten hat der Größere immer recht. Dialekte sind wichtig. Aber die Standardsprache ist als Identitätsmarker besonders relevant, wenn man über den Tellerrand des eigenen Landes hinaussehen will. Man kann sich dann auf Augenhöhe treffen. In Kanada gibt es seit 70 Jahren Integration mit den USA, dennoch stirbt das kanadische Englisch nicht aus. Im Gegenteil.

STANDARD: Sie beschäftigen sich als Anglist mit der Herausbildung eines kanadischen Englisch. Wie ist dort die Situation?

Dollinger: International ist die Plurizentrik – die Theorie, dass eine Sprache über mehrere Standardvarietäten verfügen kann – der anerkannte Zugang. Die Theorie geht in England zurück auf die 1940er-Jahre, und sie wurde vom Germanisten Michael Clyne, einem österreichischen Auswanderer in Australien, in den 1980er-Jahren ausgebaut. Die Lage in Kanada ist verblüffend ähnlich der österreichischen. Die sozialen Grundlagen für einen eigenen Standard gibt es auch erst nach dem Zweiten Weltkrieg, genauso wie in Österreich. In Kanada hat man im Zuge der Loslösung von Großbritannien und der Emanzipation vom großen Nachbarn USA eigene Wörterbücher geschrieben. Die Etablierung einer Standardvarietät des Englischen ist faktisch abgeschlossen. Der Prozess ist auch viel weniger umstritten als in Österreich, wo die Germanistik diesbezüglich in zwei Lager gespalten ist.

Stefan Dollinger, "The Pluricentricity Debate". Routledge Focus, New York 2019

STANDARD: Was wäre also zu tun, um österreichisches Deutsch als Standardsprache zu etablieren?

Dollinger: Wichtig wäre, dass man in den Schulen tatsächlich auf ein österreichisches Standarddeutsch Bezug nimmt. Es muss ein zentraler Teil der Lehrerausbildung sein. Es brauchte so etwas wie einen Beirat, der in sprachlichen Fragen berät. Und es ist eine intensive Förderung des Österreichischen Wörterbuchs notwendig, das noch stark ausbaufähig ist. Man muss klarmachen, dass für den Ausdruck der eigenen Identität das Konzept des österreichischen Standards wichtig ist. Dass es diese österreichische Identität gibt, ist heute unbestritten, das war in den 1960er-Jahren noch nicht so. Das österreichische Deutsch sollte also gefeiert werden. (Alois Pumhösel, 12.10.2020)