Eine halbe Million Menschen dürfen bei der kommenden Wiener Gemeinderatswahl ihre Stimme nicht abgeben.

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Der Brite Liam Hoare darf bei der kommenden Wien-Wahl nicht wählen. Er plädiert in seinem Gastbeitrag für Änderungen bei der Staatsbürgerschaft.

In die Wahlkabine trat ich ein, füllte meinen Stimmzettel aus und warf ihn ein, obwohl ich tief in meinem Herzen wusste, dass meine Stimme nicht das Papier wert war, auf dem sie geschrieben war. Am Anfang des Jahres verlor ich aufgrund des Brexits mein Recht, an der Wien-Wahl auf Bezirksebene teilzunehmen. Nun gehöre ich zu dem Drittel der Wiener Bevölkerung, das zum Leben der Stadt beiträgt, aber nicht wählen kann. Nur bei der von SOS Mitmensch organisierten "Pass Egal Wahl" könnte ich meine Meinung äußern – aber nur symbolisch.

In jedem Land gibt es eine Trennlinie zwischen den Wahlberechtigten und den Nichtwahlberechtigten, aber in Wien ist sie wesentlich stärker ausgeprägt. In Rudolfsheim-Fünfhaus sind 44,1 Prozent der Bewohner von der Gemeinderatswahl ausgeschlossen. In der Seestadt liegt die Nummer der Entrechteten bei 42,7 Prozent und im Zentrum Favoriten bei 56,4 Prozent. Der Trend geht zu einer gespaltenen Gesellschaft mit einer immer größeren sprachlosen, politikverdrossenen und randständigen Unterschicht.

Der Status quo ist unhaltbar, und doch sollte man es mit einer Wahlberechtigungskrise nicht verwechseln, wie es die Grünen getan haben. Für sie ist die Lösung, das Kind mit dem Bade auszuschütten und das Wahlrecht und die Staatsbürgerschaft zu entkoppeln. Der Regierungspartner schlägt vor, dass all diejenigen, die fünf Jahre in der Bundeshauptstadt gelebt haben, stimmberechtigt sein sollen. Die Neos glauben, das Wahlrecht solle für die in Wien lebenden EU-Bürger von der Bezirks- auf die Landesebene ausgeweitet werden.

Wohlgemeint, aber falsch

Wohlgemeint, aber diese Vorschläge sind Fehldiagnosen. Die Nichtwahlberechtigten sind das Symptom einer Krankheit, deren Grundursache nicht das Wahlgesetz ist, sondern das Staatsbürgerschaftsrecht. Der Staat kann und sollte nur das Wahlrecht zusammen mit der Staatsangehörigkeit verleihen. Diese Formulierung scheint vielleicht zu stark vereinfacht, aber im Kern sind es zu wenige Wähler in Österreich, weil zu viele Einwanderer die Staatsbürgerschaft nicht erhalten können. Die Hürden, die einem österreichischen Reisepass im Weg stehen, sind für viele Ausländer enorm und unüberwindlich. Man muss seit zehn Jahren rechtmäßig und ununterbrochen in Österreich gelebt haben. Ein Ehepaar muss Einkünfte von 1323,58 Euro pro Monat und 136,21 Euro für jedes Kind in seiner Familie haben, nachdem es seine Miet-, Betriebs- und Stromkosten bezahlt hat. Der Antragsteller muss die B1-Integrationsprüfung als Nachweis von Deutschkenntnissen und zur Erfüllung der Integrationsvereinbarung absolvieren. Und so weiter, und so weiter.

Aber vor allem ist das größte Hindernis das unzeitgemäße Doppelstaatsbürgerschaftsverbot. Der Daseinszustand des Migranten ist ein Leben, das zwischen der Heimat und dem Neuland hin- und hergerissen ist. Diese Qual der Wahl wäre selbstverständlich ein weniger großes Dilemma, müsste ein neuer Österreicher die Staatsbürgerschaft seines Mutterlandes nicht ablegen.

Die Vorstellung, dass man nur einem Land gegenüber loyal sein kann, sollte auf die Müllhalde der Geschichte geworfen werden. Österreich braucht keine Wahlrechtsreform, sondern ein modernes und sensibles Staatsbürgerschaftskonzept. (Liam Hoare, 7.10.2020)